NRW Skandal um Arzneitests an Heimkindern

Krefelder Pharmazeutin findet Belege für gut 50 Versuchsreihen in den 1950er bis 1970er Jahren. NRW-Gesundheitsministerium prüft.

In fünf Einrichtungen in NRW sollen Medikamententests durchgeführt worden sein, darunter auch im ehemaligen Kinderheim Neu-Düsselthal der Graf-Recke-Stiftung in Wittlaer.

In fünf Einrichtungen in NRW sollen Medikamententests durchgeführt worden sein, darunter auch im ehemaligen Kinderheim Neu-Düsselthal der Graf-Recke-Stiftung in Wittlaer.

Foto: Judith Michaelis

Krefeld. Das Ausmaß der Medikamentenversuche an Heimkindern in den 1950er bis 1970er-Jahren könnte weit größer sein als bislang vermutet. „Tausende Säuglinge und größere Kinder sind Opfer dieser Tests geworden“, sagte die Krefelder Pharmazeutin Sylvia Wagner (52) im Gespräch mit unserer Zeitung. Sie hat die Tests aufgedeckt, als sie für ihre Doktorarbeit Archive und historische Fachzeitschriften ausgewertet hat.

„Es war bundesweit gängige Praxis, den Minderjährigen Impfstoffe und Psychopharmaka zu verabreichen“, so Wagner. Sie hat bisher Belege für mehr als 50 Versuchsreihen gefunden. Laut Wagner sollen die Medikamente in mindestens fünf NRW-Einrichtungen getestet worden sein: In den von Bodelschwinghschen Anstalten Bethel in Bielefeld, im Essener Kinderheim Franz Sales Haus, in Düsseldorf im Kinderheim Neu-Düsseltal und in einem Waisenhaus sowie in der Jugendpsychiatrie Viersen-Süchteln.

Auftraggeber für die Studien waren nach Wagners Recherchen meist Pharmaunternehmen wie Merck, Janssen, Pfizer, Schering, Verla-Pharm oder die Behringwerke. Aber auch das Gesundheitsamt habe 1957 eine Studie in einem Säuglingsheim in Auftrag gegeben, in der die Nebenwirkung des damaligen Pockenimpfstoffes untersucht werden sollte. Dafür wurde den Babys per schmerzhafter Punktion Knochenmark entnommen. „Die Behörde ging damals davon aus, dass die Pflichtimpfung das Knochenmark beschädigt, dass das Mark sich aber wieder regeneriert“, erklärt Wagner. „Und man wollte wohl gucken, was da passiert“. Sie nennt ein weiteres Beispiel: „In Neu-Düsseltal durfte Friedrich Panse, ein Arzt mit NS-Vergangenheit, 1966 mit Billigung des Landesjugendamtes NRW ein Neuroleptikum an Heimkindern erforschen.“

Sylvia Wagner ist sich sicher, erst die Spitze des Eisbergs freigekratzt zu haben. „Ich mache weiter, stoße auf schlimme Dinge. Und natürlich macht mich das betroffen und wütend.“ Der Arzneimittel-Experte Gerd Glaeske aus Bremen spricht als Reaktion auf den aufgedeckten Skandal von „Menschenversuchen“ und „chemischer Gewalt“.

Das hochbrisante Thema beschäftigt auch die Landesregierung. Das NRW-Gesundheitsministerium nehme die Schilderungen „sehr ernst“, hieß es. „Unerlaubte Medikamententests darf es nicht geben — damals wie heute nicht.“ Die Prüfung der Vorgänge werde aber „aufgrund der komplexen Zusammenhänge und der gebotenen Sorgfalt Zeit in Anspruch nehmen“. Die CDU-Fraktion im Landtag forderte Konsequenzen: „Diese Menschenversuche müssen vollständig aufgeklärt werden“, sagte Peter Preuß, gesundheitspolitischer Sprecher der CDU-Landtagsfraktion.

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