Siegburg: Die Horror-Stunden in Zelle 104

Gruppenzwang, der zum Gruppenwahn wird: Wie sich im Prozess um den Siegburger Foltermord die Dynamik des Bösen zeigt.

Bonn. Sie vergewaltigten ihn auf bestialische Weise, befahlen ihm, Urin mit Spucke zu trinken. Nach zwölfstündigem Martyrium zwangen sie ihn, einen Abschiedsbrief zu schreiben, den sie später verbrannten. Dann versuchten sie viermal vergeblich, Hermann H. an der Toilettentür zu erhängen. Beim fünften Versuch gelang dies - mit einem zum Strick gedrehten Bettlaken.

Seit dem 1. August läuft vor der Jugendkammer des Landgerichts Bonn der Prozess gegen Pascal I. (19), Danny K. (17) und Ralf A. (21). Gegen drei junge Männer, die am 11. November 2006 einen in der Justizgeschichte der Bundesrepublik beispiellosen Mord an einem 20-jährigen Mithäftling begingen.

Rückblick. Am ersten Prozesstag wird zur Gewissheit: In Zelle 104 der JVA Siegburg hatte eine monströse Gruppendynamik gewütet, in deren Verlauf die Angeklagten alle menschlichen Wertvorstellungen ausblendeten und sich in einen sadistischen Rausch steigerten. "Keiner wollte das Weichei sein", sagt der 17-jährige Danny K. bei seinem Geständnis.

Dabei hatte alles so harmlos angefangen mit einem Kartenspiel, bei dem derjenige, der eine falsche Karte rät, einen Schlag auf die Finger bekommt. Schon da stand fest: Hermann H. sollte leiden. "Das war für uns nur so ein Spaß", sagt Danny später vor Gericht. Warum? Weil Hermann H. irgendwie anders war, so introvertiert? Weil er nicht in den rauen Knast-Alltag passte? Weil ihm das Imponier-Gehabe fehlte?

Immer wieder kreist der Prozess nach dem erschütternden Geständnis der Angeklagten am ersten Verhandlungstag um folgende Fragen: Wie konnte es zu diesem abgründigen Gruppenzwang in Zelle 104 kommen? Lässt sich zwischen Tätern und Mitläufern unterscheiden? Sachverständiger Wolfgang Schwachula präsentiert in der zweiten Prozesswoche ein 62 Seiten umfassendes Gutachten, wonach in der Vierer-Zelle höchst unterschiedliche Persönlichkeiten aufeinander trafen. Ralf galt in der Vollzugsanstalt als zurückhaltend, dennoch geriet er in den Sog der Gewalt. Seine Mutter berichtet von zerrütteten familiären Verhältnissen, von seinen Drogenproblemen. Aufgefallen war der 21-Jährige zuvor aber eher durch Diebstähle.

Anders seine Mitangeklagten: Danny und Pascal kennen sich seit langem. Unter anderem aus der Bottroper Drogenszene. "Ihnen dürfte es um die Position des stärksten und coolsten Gruppenmitglieds gegangen sein", vermutet der Gutachter. Über Danny heißt es in einem früheren Urteil, bei ihm bestehe "eine ungezügelte Gewaltbereitschaft". Pascal ist 14 Mal vorbestraft, wegen räuberischer Erpressung und Körperverletzung zumeist. Er gilt als notorischer Lügner.

Die Hoffnungen des Angeklagten, nach dem milden Jugendstrafrecht verurteilt zu werden, macht der Sachverständige zunichte. Es sei nicht davon auszugehen, dass Pascal "zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung noch einem Jugendlichen gleichstand", heißt es in dem Gutachten. Das könnte "lebenslänglich" für ihn bedeuten.

Untersuchungsausschuss Ende März hatte der Landtag auf Antrag der SPD-Fraktion einen Untersuchungsausschuss eingesetzt. Geklärt werden sollen die Umstände, die am 11. November 2006 zum qualvollen Tod des Häftlings Hermann H. (20) führten. Morgen will der Ausschuss die ersten der 30 Zeugen befragen: Den früheren Leiter der Justizvollzugsanstalt Siegburg und dessen damaligen Stellvertreter.

Mängel Der Untersuchungsausschuss will herausfinden, welche Mängel in der Siegburger Haftanstalt und im NRW-Jugendstrafvollzug insgesamt das Verbrechen begünstigt haben. "Unser Auftrag ist es, Struktur- und Organisationsfragen in den Mittelpunkt zu stellen", so der CDU-Sprecher im Ausschuss, Harald Giebels. Missstände im Jugendstrafvollzug sollen aufgedeckt und beseitigt werden, damit sich etwas Ähnliches wie in Siegburg niemals wiederholt. Bisher haben die Mitglieder Akten studiert und sich bei einem Besuch des Siegburger Gefängnisses einen persönlichen Eindruck verschafft.

Neues Gesetz Justizministerin Müller-Piepenkötter (CDU), die seit dem Foltermord unter heftigem Beschuss der Opposition steht, hat inzwischen längst den Entwurf für ein neues Gesetz zum Jugendstrafvollzug vorgelegt. Es soll Anfang nächsten Jahres in Kraft treten und sieht unter anderem das Recht auf Einzelunterbringung, großzügigere Besuchsregeln sowie ein ausgeweitetes Sportangebot vor.

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