Erfahrungsbericht: „Das ist kein Beruf, sondern eine Berufung“

Unsere Zeitungsvolontärin Bettina Vogt unterrichtete ein halbes Jahr Englisch und Geschichte.

<strong>Krefeld. Es ist der 22. August 2005, mein erster Schultag. Genau genommen der erste seit dem Abitur vor vier Jahren. Nur, dass ich diesmal nicht im Klassenraum sitze, sondern im Lehrerzimmer. Zwei Wochen zuvor hatte mich der Schulleiter des Gymnasiums angerufen, ob ich befristet als Englisch- und Geschichtslehrerin einspringen kann. Vor einem halben Jahr habe ich meinen Magisterabschluss an der Uni abgelegt. Unterricht kenne ich nur aus Schülersicht. Nun habe ich Fachliteratur über Unterrichtsgestaltung gelesen und die Lehrbücher für die Klassen sechs, neun und elf durchgeackert. Ein Gefühl von Anspannung, Neugier und Vorfreude steigt in mir auf.

In der fünften Stunde gebe ich meinen ersten Unterricht. Geschichte in der Sechs. Das Geschrei auf dem Flur weist mir den Weg zum Klassenzimmer. "Sind Sie Frau Vooooogt?" fragen fünf der 28 Schulkinder gleichzeitig. Dann sind sie erstmal still. Offenbar sind sie neugierig auf die erste Geschichtsstunde ihres Lebens. Genau wie ich. Ab jetzt bin ich ganz auf mich gestellt.

Jede Unterrichtsminute habe ich am Vorabend akribisch geplant, ein kleines Quiz organisiert. Es läuft gut. Die Kleinen beantworten eifrig meine Fragen, stellen selbst welche zum Thema: "Was ist eigentlich Geschichte?"

Doch spätestens bei den Neuntklässlern ist meine Planung für die Tonne. Sie unterhalten sich lieber miteinander anstatt mit mir, der Lautstärkepegel macht Kopfschmerzen. In Stufe elf werde ich ignoriert. Spätestens jetzt weiß ich: Als 24-Jährige ohne pädagogische Ausbildung vor Jugendlichen, die alles spannender finden als Englischunterricht - das wird kein Zuckerschlecken.

Egal ob in Klasse neun oder elf: Sobald ich mich zur Tafel umdrehe, wird getuschelt. Wenn ich eine Frage stelle, verdrehen ein paar Mädels die Augen. Um mich zu testen, fragen einige Jungs aus der Elf nach komplizierten Vokabeln. Ein Machtspiel. Ich fordere sie auf, selbst nachzudenken, gemeinsam erschließen wir Wortfelder mit Synonymen. Nach der Stunde kommen zwei Oberstufenschülerinnen zu mir: "Können wir nicht Bildbeschreibungen machen, anstatt Gedichte zu interpretieren?" Ich bin platt, suche Rat bei Fachlehrern. Während bei den Referendaren jede Stunde auseinandergenommen wird, stehe ich allein vor der Klasse.

Die Sechstklässler sind prima, begeisterungsfähig - auch wenn jede Stunde mindestens drei vor meinem Pult stehen und mir erklären, warum sie die Hausaufgaben nicht erledigen konnten. Ein Mädchen hat in einem halben Schulhalbjahr sieben Mal seine Hausaufgaben vergessen. Beim Elternsprechtag tischt mir die Mutter neun Ausreden dafür auf.

Die erste Klassenarbeit in der Neun und die erste Klausur in Stufe elf stehen an. Wie muss so eine Arbeit aussehen? Ich schaue mir alte Arbeiten der Kollegen an, vergleiche sie mit Vorschlägen aus den Lehrbüchern. Vor der ersten Klassenarbeits-Aufsicht bin ich so nervös wie die Schüler. Doch alles verläuft ruhig. Mit 30 Klassenarbeiten und 52 Klausuren gehe ich in die Herbstferien. Wie zum Teufel korrigiere ich das Ganze? Da mein Chef um meine Situation weiß, nehmen wir uns die erste Klausur gemeinsam vor. Jede Arbeit schaue ich mir mindestens zweimal an. Einige sind wirklich schlecht. Aber: Kann ich ihnen eine Fünf geben? Das erste Mangelhaft, das ich vergebe, schlägt mir auf den Magen.

Meine Ferien gehen für Korrekturen drauf, für Vorbereitung, das Nachsehen von Vokabeltests, Stundenprotokollen, für Konferenzen und Grübeleien über Schüler, die ich nicht begeistern kann. Es ist der 27. Januar 2006, mein letzter Schultag. Nach einem halben Jahr als Lehrerin ist mir klar: Das ist kein Beruf, sondern eine Berufung - für andere.

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