Interview mit Ulrich Wickert Neue Chance für Politiker: „Es ist eine Frage der Glaubwürdigkeit“

Düsseldorf · Ist man wegen Taten in der Vergangenheit für ein Amt ungeeignet? Der Journalist und Autor Ulrich Wickert spricht im Interview darüber, wann Politiker eine zweite Chance bekommen sollten.

 Ulrich Wickert.

Ulrich Wickert.

Foto: dpa/Uwe Zucchi

Herr Wickert, wie weit muss ein Ereignis im Leben eines Politikers zurückliegen, damit es für die politische Karriere nicht mehr relevant ist?

Wickert: Ich glaube, die Frage ist nicht, wie weit es zurückliegt, sondern ob man an der Entwicklung des Politikers sieht, dass er ein anderer geworden ist. Und das kann manchmal sehr lange dauern. Es kann auch sein, dass man glaubt, der hat sich nicht geändert. Wenn Sie an die Geschichte mit dem CDU-Politiker in Ostdeutschland denken ...

Robert Möritz. Der Kommunalpolitiker war acht Jahre zuvor Ordner auf einer Nazi-Demo und trägt ein Tattoo aus Hakenkreuzen.

Wickert: Ja, man hat nicht den Eindruck, dass er sich wirklich distanziert hat. Ich glaube, das ist das Wichtigste. Manchmal sagt man „Ach, das ist zig Jahre her.“ Aber dann fragt man sich, ob er sich wirklich geändert hat, ob er sich distanziert hat und warum er das damals gemacht hat. Also insofern ist es nicht nur eine Frage der Zeit, sondern auch eine Frage der Glaubwürdigkeit.

Hat sich die sächsische Justizministerin glaubwürdig von ihrer Jugend distanziert?

Wickert: Man fragt sich, ob etwas wirklich eine Sünde der Vorzeit war. Ich will nicht Jugendsünde sagen. Es gibt Politiker wie Herbert Wehner, der überzeugter Kommunist gewesen ist. Der war nachher geheilt. Hat sicherlich auch seine Zeit gedauert, aber es war überzeugend. Oder wenn Sie sich Joschka Fischer angucken, damals mit Helm und Stange in der Hand. Da ist klar, dass sich der Mann geändert hat. Das ist absolut überzeugend gewesen. Und bei der Justizministerin… ach, du lieber Gott, Jesus Christ… Ich war damals Vorsitzender des Aktionskommitees gegen Übergriffe der Polizei. Das kam aus den Auseinandersetzungen in der Studentenzeit. Ich finde es überhaupt nicht tragisch, wenn jemand mal etwas gesagt oder vertreten hat, was heute nicht mehr zu einem Amt passt. Es ist einfach die Frage, ob man beurteilen kann, wie sich eine Person entwickelt hat und was dazu geführt hat, so zu werden, wie sie heute ist.

Gibt es einen Unterschied in der öffentlichen Wahrnehmung zwischen moralischen Vergehen und Straftaten? Zwei Beispiele: Der ehemalige Thüringer Ministerpräsident Dieter Althaus wurde während seiner Amtszeit wegen fahrlässiger Tötung verurteilt. Er blieb im Amt. 2010 hatte der designierte CDU-Spitzenkandidat Schleswig-Holsteins, Christian von Boetticher, ein Verhältnis mit einer 16-Jährigen aus Düsseldorf. Das war nicht verboten, dennoch ist er zurückgetreten.

Wickert: Ich glaube, es gibt keinen Unterschied. Denn ob sie nun strafrechtlich etwas begangen haben, das dazu führt, dass sie zurücktreten oder ob sie eine moralische Verletzung des Anstands, der sittlichen Regeln –- das ist ja die Moral – begangen haben und zurücktreten, ist ein und derselbe Effekt. Moralische Regeln sind Dinge, die sich im vorgesetzlichen Raum befinden. Sie müssen bedenken, dass sich auch das Gesetz immer wieder verändert. Jemand wie Guido Westerwelle wäre in den 70er Jahren noch eingesperrt worden, weil Homosexualität damals noch verboten war. Es gibt gewisse Dinge, die man nicht macht. Die macht man grundsätzlich nicht und die macht man als Politiker besonders nicht, weil man eine gewisse Verantwortung gegenüber der Gemeinschaft hat. Wenn man wie Herr von Boetticher eine Beziehung hat, bei der man sagt, „So etwas macht man nicht“, dann zieht er die Konsequenzen. Er muss sie nicht ziehen, aber er weiß natürlich, dass er auf eine große Ablehnung stößt; auch bei denjenigen, die ihn gewählt haben oder die zu seiner Entourage gehören. Es gibt ja eine ganze Reihe von politischen Vorkommnissen, bei denen Leute aus dem Amt zurückgetreten sind, weil ihnen Vorwürfe gemacht worden sind.

Ein besonders aufsehenerregendes Beispiel ist der Fall Sebastian Edathy. Das Verfahren gegen den ehemaligen SPD-Bundestagsabgeordneten wegen Kinderpornografie ist gegen eine Zahlung von 5000 Euro eingestellt worden. Ist so jemand auf Lebenszeit politisch „verbrannt“?

Wickert: Ich glaube, wenn Sie aus so einer Situation herauskommen, dann wollen Sie auch nicht nochmal in die Politik gehen. Insofern haben Sie recht. Aber ich finde das „Verbrannt sein“ auf Lebenszeit ist immer so eine Sache. Cem Özdemir ist auch mal aus der ersten Linie zurückgetreten. Dann war er Europaabgeordneter und ist wieder zurückgekommen. Es kommt wirklich immer auf die einzelne Person an.

Einerseits gibt es das Vorleben eines Politikers und andererseits solche, die sich während ihrer Karriere etwas zu Schulden kommen lassen. Der ehemalige Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg hat seinen Doktortitel verloren und sich anschließend zurückgezogen. Hätte so jemand noch eine Chance?

Wickert: Ich habe den Eindruck, dass die Leute ihm nicht vergeben werden. Wenn Sie sich die Umfragen angucken, merken Sie, dass er sein Vertrauen verspielt hat. Das Schlimme war, wie er damit umgegangen ist. Er hat alles geleugnet. Wenn man so eine Doktorarbeit „zusammenfummelt“ und dann lügt und dann kommt das alles trotzdem raus und er gibt es immer noch nicht zu, sondern lügt noch ein bisschen weiter, dann kann man nicht erwarten, dass die Leute ihm wieder vertrauen. Wenn er gesagt hätte „Naja, ich hab’s mir leicht gemacht, Punkt. Und der Professor hat die Arbeit angenommen Punkt. Dann fällt es auf den Professor zurück.

Das ist Franziska Giffey geschickter angegangen. Sie hat sofort angekündigt, bei Verlust ihres Doktortitels zurückzutreten.

Wickert: Sie durfte ihren Titel behalten, aber sie hat es gleich gesagt. Das ist absolut richtig gewesen.

Sie sind ohne Internet und soziale Netzwerke aufgewachsen. Heutzutage gibt es tausend Fotos und Videos, die später irgendwo im Netz auftauchen. Selbst ein einziger Tweet kann die Karriere zerstören. Wie schätzen Sie die Rolle des Internets ein?

Wickert: Naja, das Internet kann da nix dafür. Es können nur diejenigen etwas dafür, die etwas ins Netz stellen.

Das stimmt natürlich. Aber Politiker ohne Präsenz in sozialen Netzwerken sind kaum vorstellbar.

Wickert: Robert Habeck hat Twitter verlassen. Ich glaube, es gibt einen einzigen Politiker, der nicht ohne Twitter kann, und das ist Trump. Alle anderen Politiker brauchen Twitter nicht. Sie glauben, sie bräuchten es, aber diese paar Worte, die sie in die Welt werfen, die verändern gar nichts. Das ist nur „Hurra, ich bin da und habe auch eine Meinung“. Ich selbst bin nicht bei Facebook oder Twitter. Ich brauche das alles nicht.

Wenn man als junger Mensch etwas ins Internet stellt, kann man wahrscheinlich nicht alle Folgen absehen. Und über Jahre hinweg ändert sich vielleicht auch die politische Meinung.

Wickert: Das ist ja das Dumme. Dann muss man dazu stehen. Sie sehen es ja bei Joschka Fischer. Jemand hat ihn gefilmt. Das muss man den jungen Leuten klarmachen. Ich habe da kein Mitleid.

Wie geht man mit Gegenwind im Netz um?

Wickert: Ich selber habe Schmähattacken erlebt als es das Internet noch nicht gab. Ich bin heftig angegriffen worden und eine Zuschauerkampagne ist gegen mich gewesen, weil ich etwas Kritisches über den Dalai Lama gesagt habe. Aber wenn man etwas sagt, dann muss man damit leben. Und wenn man weiß, dass es einen Shitstorm gibt, schaltet man einfach mal ab. Das ist ein Rat, den erfahrene Leute immer wieder geben: durch die 2000 Kommentare und Mails muss man durch, man muss sie ja nicht lesen. Man darf sich dadurch nicht einschüchtern lassen.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort