100. Jahrestag der Verfassung Wissenschaftler Dreyer: „Die Weimarer Republik ist gezielt zerstört worden“

Berlin · Wissenschaftler Michael Dreyer spricht über den ersten demokratischen Versuch in Deutschland. Am Mittwoch feiert die Verfassung ihren 100. Jahrestag.

 Eröffnung der Verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammlung im Nationaltheater in Weimar am 6. Februar 1919.

Eröffnung der Verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammlung im Nationaltheater in Weimar am 6. Februar 1919.

Foto: epd/akg-images

Genau vor 100 Jahren wurde in Weimar die erste demokratische Verfassung Deutschlands verabschiedet; in der thüringischen Stadt wird deshalb am Mittwoch ein neues Dokumentationszentrum eröffnet. Über die Bedeutung dieses Jubiläums sprach unser Berliner Korrespondent mit dem Politikwissenschaftler Michael Dreyer, der an der Universität Jena die „Forschungsstelle Weimarer Republik“ leitet.

 Prof. Michael Dreyer. Foto: Privat

Prof. Michael Dreyer. Foto: Privat

Foto: Michael Dreyer

Herr Professor Dreyer, ist die Weimarer Republik eher eine positive oder eine negative Erfahrung in der deutschen Geschichte?

Dreyer: Meistens wird Weimar nur vom Ende her gesehen, als Vorspiel zu Hitler. Dann empfindet man diese Zeit natürlich als ein Scheitern. Das war auch lange die dominierende Sicht in der deutschen Geschichtswissenschaft. Das hat sich allerdings zunehmend geändert. Am Anfang der Weimarer Republik standen große Chancen und Leistungen. Weimar ist auch nicht „untergegangen“, wie man oft sagt. Das war kein Naturereignis. Diese Republik ist gezielt zerstört worden von Leuten, die ganz bestimmte Interessen verfolgten.

Was war die größte Leistung der Weimarer Republik?

Die gründliche Demokratisierung der deutschen Politik. Im Vergleich zum Kaiserreich ist die Verfassung klar republikanisch und demokratisch, mit gleichem Wahlrecht auch für Frauen, Soldaten und Fürsorgeempfänger. Das gab es vorher alles nicht. Und mit einem klaren demokratischen Staatsaufbau.

Berlin ist nicht Weimar, heißt es immer wieder. Stimmt das?

Ursprünglich lautete der Satz ja Bonn ist nicht Weimar. In vielerlei Hinsicht sind wir aber Weimar. Wir haben im Grundgesetz zahlreiche Verfassungsbestimmungen fast identisch übernommen, von der Stellung des Bundestages über die Richtlinienkompetenz der Kanzlerin bis hin zu den starken Grundrechten, die in der Weimarer Verfassung sogar noch weit ausführlicher waren.

Worin besteht der wesentliche Unterschied?

In den Menschen, vor allem in den Eliten. In Weimar waren die Eliten nur zum Teil demokratisch. Ein Großteil von ihnen, ob in der Wirtschaft, in den Universitäten oder in den Medien bekämpfte die Republik aktiv. Im Militär sowieso. Heute haben wir das Glück, demokratische Eliten zu haben. Ohne die kann keine Demokratie der Welt bestehen.

Allerdings gibt es ein zunehmendes Desinteresse an der Demokratie. Die Volksparteien schrumpfen, die Wahlbeteiligung auch.

Daran liegt in der Tat eine Gefahr. Die aktuell lebende Generation hat niemals Krieg, Hunger oder große Krisen erlebt. Für sie ist manches selbstverständlich geworden, zu selbstverständlich. Das muss man immer wieder deutlich machen. Das Weimar-Jubiläum ist dafür eine gute Gelegenheit.

Wie groß war die Rolle der Weltwirtschaftskrise und der Massenarbeitslosigkeit für das Ende der Weimarer Republik?

Sie hat dazu beigetragen, dass sich dann auch weite Teile der Bevölkerung abwendeten. Vor allem aber gab sie Reichspräsident Hindenburg und der herrschenden Clique die Gelegenheit, die Republik von innen her auszuhöhlen. In England und den USA war die ökonomische Lage genauso schlimm und dort sind die Demokratien nicht zu Fall gebracht worden.

1930 ist die Große Koalition an politischen Tagesfragen gescheitert, was Hindenburg dann die Möglichkeit gab, per Notverordnungen zu regieren. Ist die heutige Politikergeneration sich ihrer Verantwortung bewusster?

Ich glaube, dass das Verantwortungsbewusstsein heute viel größer ist. Jeder kennt ja den Verlauf der Geschichte. Allerdings muss man auch sagen: 1930 konnte niemand ahnen, dass Hindenburg die Gelegenheit ergreifen würde, die Verfassung mit ihren eigenen Mitteln auszuhebeln. Ich bin mir sehr sicher, dass die Gemeinsamkeit der Demokraten heute viel stärker ist, als in den 1920er oder 1930er Jahren. Es gibt heute keine fundamentalen Unterscheide, die eine Verständigung unmöglich machen würden.

Manche diskutieren, dass auch der Bundespräsident eine stärkere Stellung haben sollte, etwa durch eine Direktwahl.

Das wäre falsch. Man sollte es bei seiner im Wesentlichen repräsentativen Rolle belassen. Aber auch in der Weimarer Verfassung war die Stellung des Reichspräsidenten längst nicht so stark, wie man das heute glaubt. Dass Hindenburg mit Notverordnungen regiert hat, war rechtsmissbräuchlich. Artikel 48 war eigentlich nur für echte Notzeiten gedacht, die es am Anfang, unter Ebert, gab, aber nicht, als Hindenburg Präsident war. Er nutzte die Regelung, um die Demokratie auszuhöhlen.

In Weimar wird heute ein „Haus der Weimarer Republik“ eröffnet. Wie groß ist das Interesse an dieser Zeit?

Es ist in den letzten Jahren stark gewachsen. Das hängt zum einen damit zusammen, dass sich viele Sorgen jetzt um unsere eigene Demokratie machen. Aber auch insgesamt hat das Interesse an historischen Themen zugenommen, wie man 2014 gesehen hat, als der Ausbruch des Ersten Weltkrieges 100 Jahre zurück lag. So ist es jetzt wieder.

Was sagen Sie der Kinder- oder Enkelgeneration, was sie aus Weimar lernen kann?

Demokratie ist nicht selbstverständlich, man muss sie ständig bewahren. Gleiches gilt für den Frieden. Noch vor zwei, drei Generationen haben sich die europäischen Staaten als Erbfeinde betrachtet. Dass sie heute freundschaftlich miteinander umgehen, ist ebenfalls keine Selbstverständlichkeit und muss ständig neu gestiftet werden, wie Immanuel Kant es einmal formuliert hat.

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