Analyse Warum Chemnitz keine Überraschung ist

Die Eskalation von Nazi-Gewalt und das Versagen der Polizei in der früheren Karl-Marx-Stadt sind das Ergebnis der CDU-Politik in Sachsen: Sie hat bei der Polizei Personal abgebaut und Rechtsextremismus als ungerechtes West-Vorurteil abgetan.

Dresden/Chemnitz. Eigentlich hätte es für Chemnitz und Sonja Penzel ein super Jahr werden können: Im Frühjahr des 200. Geburtstag des einstigen Namensgebers Karl Marx, der ja immer noch irgendwie zur Chemnitzer Folklore gehört, dann in diesem Sommer der Stadtgeburtstag „875 Jahre Chemnitz“. Mit 260 000 Besuchern aus der Region rechnete die Stadt und plante die dreitägige Feier mit sechs Bühnen und 200 Ständen in der Innenstadt.

Eine schöne Gelegenheit für Penzel, nur drei Wochen nach dem Dienstantritt als erste Chefin einer Polizeidirektion in Sachsen zu zeigen, wie gut neue Besen kehren. Stattdessen sahen die Beamten der frischgebackenen 46-jährigen Polizeipräsidentin zu, wie ein grölender mordbereiter Mob gruppenweise „südländisch“ aussehende Menschen durch die Stadt jagte, verfassungsfeindliche Symbole zeigte, rechtsextremistische Sprechchöre skandierte und die Straße eroberte. Es waren einfach viel zu wenige Polizisten da.

Der Eindruck, dass das keineswegs zufällig immer dann der Fall ist, wenn Nazis sich in Sachsen zusammenrotten, trügt nicht. Die sächsische CDU, die den Freistaat ununterbrochen seit 1990 regiert, hat den Polizeimangel planmäßig herbeigeführt. 2011 stellte Innenminister Markus Ulbig (CDU) ein „Polizeikonzept“ vor, laut dem die Stellenzahl der sächsischen Polizei von 10 850 (2010) auf 8646 bis 2025 sinken sollte, die Zahl der rund um die Uhr besetzten Reviere von 72 auf 41.

Bereits vor drei Jahren schlugen die Grünen im sächsischen Landtag Alarm: „Die durchschnittliche Interventionszeit hat sich seit dem Jahr 2011 von 17 Minuten auf 20,6 Minuten im Jahr 2014 erhöht“, stellten sie fest. Sie errechneten auch, was der CDU-Plan für die Polizeidirektion Chemnitz bedeutete: einen Personalabbau von 19,91 Prozent bis zum Jahr 2025. Von Seiten des damaligen Chemnitzer Polizeipräsidenten Uwe Reißmann, eines treuen Gefolgsmanns von Innenminister Ulbig, ist kein Protest überliefert.

Einer überörtlichen Öffentlichkeit präsentierte sich Reißmann im Februar 2016: Er leitete den skandalösen Polizeieinsatz (wieder einmal zu wenige Polizisten) bei den rassistischen Ausschreitungen eines Mobs aus Nazis und Anwohnern gegen Flüchtlinge in Clausnitz, ließ von seinen Beamten zwei Jugendliche und eine Frau gewaltsam aus dem attackierten Bus zerren und kündigte Ermittlungen an — gegen die Flüchtlinge. Sie hätten, so Reißmann, die Protestierenden mit „Stinkefinger“- und „Kehle-durch“-Gesten provoziert. Laut dem 62-jährigen Reißmann bot Innenminister Ulbig ihm an, trotz der Möglichkeit der Pensionierung mindestens ein Jahr länger im Amt bleiben zu können, berichtet der „MDR“. „Geplant war eine Verlängerung in jedem Fall noch über die nächste Landtagswahl 2019 hinaus“, erzählte Reißmann der Zeitung „Freie Presse“.

Es ist die offenkundige Furcht vor dieser Landtagswahl, die das Handeln von Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU), der den Job nach dem überraschenden Rücktritt von Stanislaw Tillich (CDU-Ministerpräsident seit 2008) im Dezember 2017 übernahm. Tillich hatte damit nicht nur die Konsequenzen aus dem krachenden Scheitern seines Anti-Merkel-Kurses während des Bundestagswahlkampfs gezogen.

Tillich hatte in seiner Amtszeit die ständigen Übergriffe rechtsextremistischer „Wutbürger“ von Heidenau bis Bautzen kleingeredet und wohl bis zum Schluss den Zusammenhang zwischen der CDU-Leugnung, in Sachsen ein Rechtsextremismus-Problem zu haben, und dem Aufstieg der sogenannten „Pegida“ in Dresden und der AfD im gesamten Freistaat nicht verstanden.

Es steht zu befürchten, dass ihm sein Nachfolger Kretschmer in Sachen Uneinsichtigkeit kaum nachsteht — obwohl er den untragbar gewordenen Innenminister Markus Ulbig feuerte und in Chemnitz Polizeipräsident Uwe Reißmann zum 1. August durch Sonja Penzel ersetzte. Von 2005 an diente Kretschmer der Sächsischen Union als Generalsekretär.

Nach den AfD-Erfolgen bei der sächsischen Landtagswahl 2016 präsentierte Kretschmer mit anderen einen „Aufruf zu einer Leit- und Rahmenkultur“, in dem er „in Zeiten gesellschaftlicher Unruhe“ ein „abendländisches Wertefundament“ postulierte und „Heimat und Patriotismus“ als „Kraftquelle“ empfahl. Im Sommer 2017 gehörte Kretschmer — wie damals von unserer Zeitung ausführlich berichtet — zu den treibenden Kräften beim politischen Abschuss der „Ostbeauftragten“ der Bundesregierung, Iris Gleicke (SPD).

Im jährlichen Bericht der Bundesregierung zum „Stand der Deutschen Einheit“ hatte Iris Gleicke 2016 — nach Angriffen, Brandanschlägen und tagelangen Belagerungen von Flüchtlings-Unterkünften in Meißen, Freital und Heidenau — erklärt: „Fremdenfeindlichkeit, Rechtsextremismus und Intoleranz stellen eine große Gefahr für die gesellschaftliche, aber auch die wirtschaftliche Entwicklung der neuen Länder dar“ und es gebe „in Relation zur Bevölkerungszahl eine Häufung von rechtsextremistisch motivierten Gewalttaten in den ostdeutschen Ländern“. Dabei seien „Radikalisierungstendenzen bis in die Mitte der Gesellschaft sichtbar“.

Im Mai 2018 präsentierte Iris Gleicke die Studie „Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit in Ostdeutschland“, erarbeitet an Franz Walters Institut für Demokratieforschung in Göttingen. Die Studie macht namentlich die CDU Sachsens, und zwar von Kurt Biedenkopfs Regierungsübernahme 1990 an, mitverantwortlich für ein Rechtsextremismus und Fremdenhass begünstigendes politisches Klima, „weil insbesondere in Sachsen eine spezifische, von den dortigen Vertretern der CDU dominierte politische Kultur wirkt, die das Eigene überhöht und Abwehrreflexe gegen das Fremde, Andere, Äußere kultiviert“.

Die Göttinger kamen zu dem Ergebnis, dass die Sozialisierung in der weitgehend abgeschotteten DDR, ein weitverbreitetes „Gefühl der kollektiven Benachteiligung“ und mangelnde politische Bildung die Hauptursachen seien, warum Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit im Osten stärker ausgeprägt seien als im Westen. Auch fühlten sich viele Ostdeutsche als Bewohner von Nazi-Hochburgen „gebrandmarkt“ — und das wiederum führe als Abwehr zu einer „Überhöhung“ der eigenen ostdeutschen Identität gegenüber Zuwanderern.

Kretschmar reagierte prompt: „Es ist ein Skandal, wie die Ostdeutschen durch diese Studie unter Generalverdacht gestellt wurden. Jeder Bürger mit gesundem Menschenverstand hat von Anfang an gesehen, dass das dort beschriebene Bild nichts mit der Realität in den neuen Bundesländern zu tun hat“, verkündete der heutige Ministerpräsident in einer Pressemitteilung. Kretschmer bezeichnete die Studie im Deutschlandfunk als „Machwerk“ auf einer „dünnen Forschungslage“ mit „pseudopsychologischen Diagnosen“ voll von „nicht belegten Stereotypen“.

Der Dauerbeschuss aus den Reihen der sächsischen CDU zeigte Wirkung: Gleicke zog die Studie zurück. Statt sich den Problemen zu widmen, sorgte die sächsische CDU dafür, dass im „Ostbericht 2017“ das Wort „Fremdenhass“ nicht mehr vorkam und das Unterkapitel zum Rechtsextremismus gestrichen wurde. Stattdessen hieß es nun lediglich, wo Menschen sich „abgehängt“ fühlten, könnten im Osten gesellschaftliche Spannungen „bis hin zu radikalen Einstellungen entstehen“. Förderung der strukturschwachen Regionen sei Voraussetzung für gerechte Teilhabe.

Man darf davon ausgehen, dass der neue „Ostbeauftragte“, der Vize-Chef der Thüringen-CDU Christian Hirte, den Ost-Bericht 2018 in einigen Wochen wieder mit Warnungen vor „Vorurteilen“ gegenüber dem Osten garniert. Die Chemnitzer Menschenjagd fand am Jahrestag des Pogroms von Rostock-Lichtenhagen 1992 statt, von einem AfD-Bundestagsabgeordneten bei Twitter als „Selbstschutz“ beklatscht. Das Lachen in Satire-Sendungen westdeutscher TV-Anstalten über den LKA-„Hutbürger“, der ein „ZDF“-Team mit einer wie selbstverständlich vorgetragenen Rechtsanmaßung behinderte, ist völlig unangemessen. Die Polizei-Kapitulation von Chemnitz ist die direkte Folge des Politik-Versagens in der Dresdner Staatskanzlei. In Umfragen steht die AfD in Sachsen bei 25 Prozent und wäre die zweitstärkste Partei.

Ministerpräsident Kretschmer erklärte am Dienstag wörtlich: „Der sächsische Staat ist handlungsfähig und er handelt.“ Beides darf man bezweifeln. Persönlich könnte der Chef der Sachsen-CDU längst gelernt haben, was bei seiner Problem-Leugnung und Rechts-Anbiederung herauskommt. In seinem Heimatwahlkreis Görlitz wählte die Mehrheit 2017 das Original: Kretschmer verlor sein Bundestagsmandat an die AfD.

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