Wahlrecht: Der Bundestag bläht wohl nicht ganz so stark

Zahl der Abgeordneten könnte auf 670 steigen - Wahlrechtsreform nicht mehr realistisch.

Archivbild.

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Foto: Bernd von Jutrczenka

Berlin. Es ist ein Alarmruf. Der Steuerzahlerbund warnt eindringlich vor einem "Bläh-Bundestag" und fordert eine Reform in letzter Minute. Auch Unions-Fraktionschef Volker Kauder mahnte in einem Interview: "Ich kann nur an alle appellieren, jetzt zu einem Ergebnis zu kommen." Doch danach sieht es nicht aus. Wenn es so bliebe, könnten im nächsten Bundestag bis zu 750 Abgeordnete sitzen, statt jetzt 630, so die Warnung des Interessenverbandes der Steuerzahler. Das koste dann bis zu 128 Millionen Euro mehr pro Jahr. Steuerzahler-Präsident Rainer Holznagel schlug in der "Bild"-Zeitung eine Begrenzung auf 630 Sitze vor, in der übernächsten Periode dann auf 500. Auch der Unions-Mittelstandspolitiker Christian von Stetten appellierte, "die letzte Chance" für eine Reform vor der Wahl noch zu nutzen. Parlamentspräsident Norbert Lammert (CDU) hatte vor längerem ebenfalls eine Begrenzung auf 630 Sitze angeregt.

Das Problem entsteht durch die Besonderheit des deutschen Wahlrechts. Zum einen sollen die Parteien ihrem Stimmenanteil entsprechend im Parlament vertreten sein. Zum anderen sind aber 299 Sitze für Direktkandidaten reserviert. Eigentlich sollen nur genauso viele Vertreter von Landeslisten dazukommen, so dass der Bundestag optimalerweise 598 Mitglieder hätte. Wenn aber eine Partei mehr Direktsitze erringt, als ihr nach den Prozenten zusteht, so genannte Überhangmandate, werden diese über einen komplizierten Mechanismus so lange durch Ausgleichsmandate kompensiert, bis das Stärkeverhältnis zwischen allen Parteien wieder stimmt, und zwar auch regional.

Am häufigsten profitiert die Union von der Regelung. Im aktuellen Bundestag hat sie vier Überhangmandate, die anderen Parteien haben keine. Wenn, was absehbar ist, künftig noch mehr Parteien miteinander konkurrieren, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass die Union, obwohl sie nur knapp über 30 Prozent liegt, in noch mehr Wahlkreisen die Direktmandate holt. Die könnte bei einer Deckelung auf insgesamt 630 Sitze dann nicht mehr alle bei den anderen Parteien ausgeglichen werden, weshalb die SPD die Idee ablehnt.

Die SPD sieht eine langfristige Reformmöglichkeit darin, den Anteil der Listenmandate zu Lasten der Direktmandate zu erhöhen, was wiederum die Union nicht will. Bei der vom Steuerzahlerbund vorgeschlagenen Verringerung auf 500 Sitze müssten die Wahlkreise komplett neu zugeschnitten werden. Dafür ist es jetzt ohnehin zu spät, denn überall werden die Kandidaten schon nominiert. Am letzten Freitag kamen bei Lammert Beauftragte der Koalitionsparteien zusammen. Doch man fand erneut keinen gemeinsamen Weg. Allerdings stellte man gemeinsam fest, dass alles vielleicht gar nicht so schlimm ist, wie es scheint. Denn das Innenministerium hatte ausgerechnet, dass der neue Bundestag auf der Basis aktueller Umfragewerte rund 660 bis 670 Abgeordnete haben würde, also weniger als der Steuerzahlerbund behauptet. Diese Größenordnung hatte man bei allen Wahlen in den 1990er Jahren auch schon gehabt.

Ohnehin rät die OECD generell ihre Mitgliedsländer dringend davon ab, kürzer als ein Jahr vor einem Wahltermin noch Reformen zu versuchen - es riecht schnell nach Wahlmanipulation.

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