Arbeitsmarkt Trotz sinkender Arbeitslosenzahlen warnt Experte vor Euphorie

Berlin. Der Job-Boom hat sich laut Bundesagentur für Arbeit auch im Juli fortgesetzt. Doch der Chef des Bonner Instituts zur Zukunft der Arbeit (IZA), Hilmar Schneider, warnt vor Euphorie: Manche Zahlen relativierten sich auch, so der Experte im Gespräch mit unserem Korrespondenten Stefan Vetter.

Symbolbild.

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Foto: Sebastian Kahnert

Herr Schneider, mit aktuell rund 2,5 Millionen Arbeitslosen hat sich die Zahl seit 2005 glatt halbiert. Haben wir es gewissermaßen mit einem Dauerwunder zu tun?

Schneider: In der Tat hatten wir vor zwölf Jahren noch rund fünf Millionen Arbeitslose. Aber man muss differenzieren. Schon bis zum Jahr 2008 ging die Arbeitslosigkeit auf rund drei Millionen zurück. Das hatte auch viel mit politischen Maßnahmen zu tun. Seitdem hat sich der Rückgang fast ausschließlich im Osten vollzogen. Die Zahl ging dort um etwa 700.000 Personen zurück. Im Westen herrscht dagegen Stagnation. Was so aussieht, als sei die Arbeitslosigkeit auf breiter Front gesunken, entpuppt sich also bei näherer Betrachtung als sehr regionales Phänomen.

Wie erklärt sich das?

Schneider: Nach der Wende haben viele im Osten ihre Arbeit verloren. Die DDR hatte eine Erwerbsquote von 95 Prozent. Das heißt, 95 Prozent der Erwerbsfähigen hatten auch ein Erwerbseinkommen. Diese sehr hohe Quote ist in kürzester Zeit auf das westdeutsche Niveau von etwa 70 Prozent gefallen. Die übrigen 25 Prozent sind die Verlierer-Generation in den neuen Ländern. Sie hat nie wieder richtig am Arbeitsmarkt Fuß gefasst. Diese Generation kommt aber nun sukzessive ins Rentenalter und fällt damit aus der Arbeitslosenstatistik. Auf diese Weise erklärt also die Demografie die sinkende Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland.

Das heißt, eine Verlierer-Generation könnte in naher Zukunft statistisch für „Vollbeschäftigung“ sorgen?

Schneider: Im Prinzip ja. Die Union hat das Ziel der Halbierung der Arbeitslosigkeit in ihrem Wahlprogramm formuliert. Aber falls dieses Ziel erreicht wird, hat das kaum etwas mit erfolgreicher Arbeitsmarktpolitik zu tun. Wenn der Rückgang der Arbeitslosigkeit ausschließlich durch den Ruhestand der Verlierer in den neuen Ländern zustande kommt, dann ist das kein Grund, sich zu brüsten.

Sie geben der aktuellen Arbeitsmarktpolitik schlechte Noten?

Schneider: Verglichen mit den meisten anderen Industrieländern ist der Handlungsdruck für Deutschland sicher geringer. Die Gefahr besteht aber darin, manche Reform wieder zurückzudrehen, weil man glaubt, es sich angesichts der guten Zahlen leisten zu können. So wollen SPD oder Linke zum Beispiel die Zeitarbeit wieder eindämmen. Dabei hat gerade dieser Sektor zu einer erheblichen Flexibilität beigetragen, ohne dass die traditionelle Vollzeiterwerbstätigkeit dadurch beschädigt worden ist.

Seit dem Jahr 2005 gibt es aber auch rund fünf Millionen mehr Erwerbstätige. Muss man hier ebenfalls differenzieren?

Schneider: Der anhaltende Beschäftigungsaufbau auf aktuell fast 44,4 Millionen Beschäftigte ist tatsächlich extrem außergewöhnlich. Allerdings muss man dabei auch die erbrachten Arbeitsstunden in Betracht ziehen. Umgerechnet in Vollzeitarbeitsplätze haben wir in den letzten zehn Jahren einen Zuwachs von nur knapp 2,5 Millionen Beschäftigten gehabt, denn viele Menschen arbeiten in Teilzeit. Das ist nichts Schlechtes, relativiert aber das oft zitierte Beschäftigungswunder.

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