Stimmung wie beim Familienfest

Wahlmänner und Wahlfrauen schießen Erinnerungsfotos. Mehr als 100 Enthaltungen trüben Gaucks Erfolg.

Berlin. Es hat was von einem Familienfest. Im Bundestagsplenum ist gerade Zählpause, und die Wahlmänner und -frauen lassen sich zusammen mit ihrem Wahlkreisvertreter ablichten. Vor dem Reichstags-Westflügel haben sich mehrere tausend Berliner und Touristen versammelt, um auf zwei riesigen Bildschirmen die TV-Übertragung der Wahl zu verfolgen.

In den Wandelgängen des Bundestages werden Wetten angenommen: Kriegt Joachim Gauck mehr oder weniger als 1000 Stimmen? Es ist immer wieder argumentiert worden, dass die Vorgeschichte seiner Kandidatur sich deutlich in dem Ergebnis niederschlagen werde.

Kanzlerin Angela Merkel habe durch ihren Schwenk zur Unterstützung für Gauck CDU-Anhänger mobilisiert, die sich gegen die Kandidatur des Bürgerrechtlers und Leiter der Stasi-Unterlagenbehörde richten. In den mehr als 100 Enthaltungen spiegele sich der Protest auch an Merkel wider, die der plötzlich auf Gauck setzenden FDP nachgeben musste, um die schwarz-gelbe Koalition nicht zu gefährden.

Als Bundestagspräsident Norbert Lammert um 14.23 Uhr das Ergebnis verkündet, gibt es nur bei der Bekanntgabe der Stimmenthaltungen ein kurzes Raunen. Beate Klarsfeld hat als Kandidatin der Linken 126 Stimmen erhalten — drei Stimmen mehr, als die Fraktion in der Bundesversammlung ausmacht. Gregor Gysi bedankte sich mit rotem Blumenstrauß und Wangenküsschen für ihre Arbeit.

Joachim Gauck, der für sein Wahlergebnis drei Minuten stehende Ovationen von Union, FDP, SPD und Bündnis/Grüne erhält, ist die Ergriffenheit in diesem Moment deutlich anzumerken. Entgegen aller Erwartung vergisst er, seiner unterlegenen Gegenkandidatin den Dank für die demokratische Konkurrenz auszusprechen. Bei der Linkspartei wird das mit Argwohn gesehen, weil die Partei ein Bundesverdienstkreuz für die Unterlegene durchsetzen möchte.

Gauck wird am kommenden Freitag auf einer gemeinsamen Sitzung von Bundestag und Bundesrat vereidigt. Erst im Anschluss daran will er eine Grundsatzrede halten. Gestern gibt es einen kleinen Vorgeschmack, den er allerdings streng vom Manuskript abliest. Vor allem steigt er auf die Erwartungsbremse: Er werde „mit Sicherheit nicht alle Erwartungen erfüllen können.“ Er sei aber offen für neue Probleme und Themen. Gaucks Team arbeitet nun unter Hochdruck an einem Programm, das seine — von manchen als pastoral empfundene — kurze Rede in den politischen Alltag übersetzt.

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