Interview mit Thomas Kliche Politikpsychologe: „In Krisen neigen die meisten Menschen zur autoritären Reaktion“

Berlin · Die Polizei verzeichnet verstärkt Meldungen von Bürgern, wenn andere gegen Corona-Regeln verstoßen. Es gibt sogar einige Politiker, die zu solchen Hinweisen aufrufen. Ist das in Ordnung oder bereits Denunziantentum? Psychologe Thomas Kliche spricht im Interview über Hinweisgeber auf Regelverstöße.

 Thomas Kliche, Politikpsychologe an der Hochschule Magdeburg-Stendal.

Thomas Kliche, Politikpsychologe an der Hochschule Magdeburg-Stendal.

Foto: picture alliance / dpa/Alexej Woronzow

Für den Gesellschafts- und Politikpsychologen Thomas Kliche von der Hochschule Magdeburg-Stendal hat das Eintreten für Regeln vor allem etwas mit Gerechtigkeit zu tun. Das gelte auch in der derzeitigen Corona-Krise, erklärt Kliche im Gespräch mit unserer Zeitung.

Herr Kliche, es heißt, viele Menschen werden in der Krise zu Denunzianten. Stimmt das?

Thomas Kliche: Das sind doch bislang wenige, schon weil die meisten Menschen sich an die Regeln halten und weil die Ämter einer Flut von Meldungen gar nicht nachgehen könnten. Aber auch der Ausdruck ist irreführend. Bei Einschränkungen wird Menschen Fairness noch wichtiger als sonst, damit die Last einigermaßen gleichmäßig verteilt und das Wohl der Gruppe gewahrt wird. Wer also für die Einhaltung der Regeln eintritt, tut das oft aus Gerechtigkeitsgründen.

Sollten die Bürger denn Corona-Regelbrecher melden oder nicht?

Kliche: Sie sollten abwägen. Wenn jemand andere Menschen gefährdet, etwa als Pulk im Seniorenpflegeheim aufkreuzt, dann müssen wir eingreifen. Wenn jemand mit seiner Familie ein wenig Auslauf im Park sucht, sind Zurechtweisungen doch menschlich ärmlich und medizinisch ungerechtfertigt. Also mitdenken und Leben schützen! Das ist der Kern der Sache, nicht kleinliche, wichtigtuerische Kontrolle.

Also gibt es eine Grenze zwischen Zivilcourage und Denunziantentum?

Kliche: Es gibt gute und schlechte Gründe für vernünftiges Verhalten, aber auch für unvernünftiges. Faustregel: Was man engstirnig und dogmatisch macht, richtet Schaden an. Wer sich zum Hobby macht, andere zu maßregeln, wird langfristig zumeist auch die Sache schädigen. Wer freundlich und engagiert lebt, kann sich mit anderen ja in der Regel verständigen.

Gibt es spezielle Charaktere, die besonders mit Argusaugen auf andere Menschen achten?

Kliche: Gewiss. Wer zwanghaft an Regeln hängt, weil jede Neuheit oder Individualität Angst auslöst, oder wer unter dem Vorwand von Regeln gerne andere herumkommandiert, der wird Widerstand auslösen. Wir sollten aber alle etwas Nachsicht haben. Denn in Krisen neigen die meisten Menschen zur sogenannten autoritären Reaktion: Sie wünschen sich klare Regeln, eine einige und starke Gruppe, eine durchsetzungsfähige Führung und ein überschaubares Weltbild mit einfachen Entscheidungen und rasch machbaren Lösungen.

Welche Rolle spielt, dass bei vielen Menschen daheim die Nerven inzwischen blankliegen?

Kliche: Wir merken unser „Unbehagen in der Kultur“, wie Sigmund Freud das nennt, wenn wir unsere Triebregungen zugunsten des Zusammenlebens zurückhalten müssen. Je enger wir aufeinander angewiesen sind, je dichter die Normen gestrickt sind und je weniger wir mit ihnen vertraut sind, desto anstrengender wird Zusammenleben. Und das macht einfach gereizt, gerade in kleinen Wohnungen mit pubertierenden Kindern und geringer langjähriger Übung in Selbstreflexion und Selbststeuerung. Aber Menschen sind auch schlau und flexibel, das gelingt mit etwas Übung überwiegend einigermaßen gut.

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