Mulmiges Gefühl: „AKW Tihange nur paar Kilometer weg“

Berlin diskutiert über die stillgelegten Meiler. Den Menschen in der Aachener Grenzregion erscheint diese Diskussion im anderen Licht. Denn sie haben das belgische Atomkraftwerk Tihange vor der Tür. Nach Fukushima sieht man das nicht mehr so gelassen.

Aachen. Der Wind kommt meistens aus Westen. Im Westen von Aachen liegt Belgien und rund 90 Kilometer entfernt das Atomkraftwerk Tihange bei Lüttich. Bei einem nuklearen Unfall wäre das keine Entfernung. Seit dem Reaktorunglück von Fukushima leben die Aachener nicht mehr ganz so entspannt mit Tihange. „Bei einem so uralten Kraftwerk, das womöglich nicht auf den neuesten Stand gebracht ist, macht man sich natürlich Gedanken“, sagt der Deutsche Hans Poth, der einen Sprung weit über die Grenze im belgischen Kelmis wohnt.

Kleinere Zwischenfälle gab es immer wieder. Im vergangenen Herbst war Chlorsäure ausgelaufen. 2006 war eine geringe Menge Radioaktivität ausgetreten und es gab einen Fehler im Energieversorgungssystem. „Was ich so mitgekriegt habe, war besorgniserregend. Das sind ja nur ein paar Kilometer von hier“, sagt Poth. Während in Deutschland die Diskussion über die vorübergehende Abschaltung der ältesten deutschen AKW heiß läuft, wissen Menschen in europäischen Grenzgebieten wie Aachen, Trier oder im Südschwarzwald wie relativ solche Maßnahmen sind, wenn auf der anderen Seite der Grenze Meiler stehen.

Die Anlage des vom belgischen Stromkonzern Electrabel betriebenen Kraftwerks bei Lüttich ist mit 31 Jahren die älteste in Belgien und auch im europäischen Vergleich ein Fossil. „Die Störanfälligkeit nimmt mit dem Alter zu“, sagt Greenpeace-Sprecher Jan Haverkamp in Brüssel. In einer Energie-Resolution hält die Umweltschutz-Organisation fest, dass Kernkraftwerke nicht länger als 30 Jahre am Netz bleiben sollten. Belgien hatte per Gesetz beschlossen bis 2025 alle Meiler vom Netz zu nehmen, sobald sie 40 Jahre in Betrieb sind. Nach Fukushima ticken die Uhren aber anders, meint Haverkamp. Bleibe abzuwarten, was die neue Regierung dazu sagt.

Es war purer Zufall, dass Belgien nur wenige Tage nach der sich anbahnenden Katastrophe von Fukushima eine Informationskampagne für den nuklearen Ernstfall startete. Menschen an den Nuklearstandorten, also auch in Tihange, erhielten Informationsbroschüren zum richtigen Verhalten bei einem Unfall und kostenlose Jodtabletten. Wären da nicht die Bilder aus Japan gewesen, der Sachverhalt wäre in den deutschen Medien wohl kaum eine Meldung wert gewesen. Erdbeben sind auch in Aachen ein Thema.

Die niederrheinische Bucht gehört zu den aktivsten Erdbebengebieten nördlich der Alpen. Das letzte starke Beben mit einer Stärke von 5,9 ist zwar schon 19 Jahre her, aber unvergessen. Ein WDR-Bericht über die Erdbebensicherheit von Tihange wirkte da nicht gerade beruhigend. Der Direktor der belgischen Aufsichtsbehörde Manfred Schrauben sagte demnach, das Kraftwerk sei für eine Erdbeben-Stärke von bis zu maximal 5,9 ausgelegt. Die Kraftwerksbetreiber sprachen dagegen von einer Erdbebensicherheit bis 6,5. Das schafft kein Vertrauen, wenngleich Greenpeace die Möglichkeit eines Stromausfalls durch Erdbeben als relativ gering einschätzt.

Seit Fukushima gibt es bei der in Eupen erscheinenden deutschsprachigen Zeitung „Grenzecho“ eine Welle von Leserbriefen. Darin protestieren die Leute nicht etwa gegen das Kraftwerk vor ihrer Haustür, sondern grundsätzlich gegen Kernkraft. Die Eupener denken europäischer als anderswo. „Es ist doch egal, ob wir über Tihange oder Cattenom sprechen. In Europa sitzen wir doch alle viel zu eng am Tisch“, sagt einer.

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