Wahlkampf-Protokoll Martin Schulz: Es fährt ein Zug nach Irgendwo

Der „Schulzzug“ fuhr in den entscheidenden Wochen ohne Inhalte durchs Niemandsland der Wähler-Wahrnehmung. Ein Protokoll.

 Gesichter von gestern: (Noch-)Fraktionschef Norbert Römer sowie die (Noch-)Minister Svenja Schulz und Mike Groschek sollen in NRW den Wahlkampf von Martin Schulz (re.) anschieben.

Gesichter von gestern: (Noch-)Fraktionschef Norbert Römer sowie die (Noch-)Minister Svenja Schulz und Mike Groschek sollen in NRW den Wahlkampf von Martin Schulz (re.) anschieben.

Foto: dpa

Düsseldorf. Aachen, 1. Mai: Martin Schulz spricht auf dem Aachener Markt zum Tag der Arbeit. Es ist nicht die zentrale NRW-Kundgebung (die mit Ministerpräsidentin Hannelore Kraft und dem DGB-NRW-Vorsitzenden Andreas Meyer-Lauber in Köln stattfindet) und auch nicht die zentrale Bundeskundgebung (die mit Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles und dem DGB-Bundesvorstandsvorsitzenden Reiner Hoffmann in Gelsenkirchen stattfindet).

Schulz spricht bloß beim Aachener DGB und sagt nichts, was irgendeine Wirkung über den schönen Marktplatz hinaus entfalten würde. Alle Fragen, die die angereisten TV-Teams haben, drehen sich um den Schweizer Steuer-Spion. Skandal, sagt Schulz, und in Anspielung auf Peer Steinbrück, aber man werde deswegen sicher keine Kavallerie schicken.

Sowas findet Schulz originell. Das ist es auch, aber er hält es für schlagfertig. Angela Merkel ist zeitgleich in den Vereinigten Arabischen Emiraten unterwegs, dann reist sie zu Wladimir Putin nach Sotschi, um den G20-Gipfel in Hamburg vorzubereiten. Die Hauptthemen der Tagesschau um 20 Uhr: Kritik an Verteidigungsministerin von der Leyen nach Vorwürfen gegen die Bundeswehr, der 1. Mai mit DGB-Chef Hoffmann und Ministerin Nahles, Stimmung in Frankreich.

Martin Schulz, der SPD-Bundesvorsitzende und Kanzlerkandidat, dessen einziges Thema „Gerechtigkeit“ ist, kommt 14 Tage vor der NRW-Landtagswahl in der wichtigsten Nachrichtensendung am 1. Mai nicht vor. Eine Woche zuvor hat die Europäische Kommission 20 Grundsätze zur Stärkung sozialer Rechte für alle Bürgerinnen und Bürger in Europa vorgestellt. Eine Steilvorlage, die Schulz nicht einmal aufgreift.

Am 4. Mai ist es genau 100 Tage her, dass Schulz verkündet hat, er wolle Kanzler werden. Bei Facebook schreibt der Kandidat an diesem Tag: „Können wir bis zum 24. September genügend Menschen überzeugen, dass sie uns ihr Vertrauen geben, unser Land gerechter zu machen? Ich weiß, dass wir das können. Nach 100 Tagen noch mehr als zu Beginn.“ Die Hauptthemen der Tagesschau an diesem Abend: Wieder von der Leyen und die Bundeswehr, Bilanz des TV-Duells Le Pen gegen Macron und Schutzzonen in Syrien. Kein Wort, kein Bild von Schulz.

Am 5. Mai entsteht im Regionalexpress RE 21631, den die Partei in „Schulzzug der SPD Schleswig-Holstein“ umbenannt hat, das verhängnisvolle Foto von Torsten Albig, Manuela Schwesig, Ralf Stegner und Martin Schulz, das die frustrierten Gesichter der Top-Sozis nach der Kenntnisnahme der jüngsten SPD-Zahlen aus NRW zeigt.

Drei Tage später entgleist der Schulzzug nach der verlorenen Saarlandwahl mit der Niederlage von Torsten Albig zum zweiten Mal. In NRW hat CDU-Spitzenkandidat Armin Laschet bei den TV-Duellen gegen Amtsinhaberin Hannelore Kraft merklich aufgeholt. Schulz, von dem die meisten Wähler lange nichts gehört haben, taucht am 8. Mai für wenige Sekunden in der Tagesschau auf: Er überreicht dem Wahlverlierer Blumen und ist nicht fröhlich.

Schulz hält an diesem Tag noch eine Grundsatzrede vor der Berliner IHK. „Denn die Digitalisierung verändert unsere Welt und unser Arbeitsleben. Ich werde das anpacken, damit sie für alle zur Chance wird“, sagt er bei Facebook über diese Rede, und bleibt vage: „Meine genauen Forderungen werde ich Euch auch hier in den kommenden Tagen vorstellen.“ Die Show stiehlt ihm Sigmar Gabriel, der mit EU-Kommissions-Chef Juncker zeitgleich sein neustes Buch vorstellt.

Berlin, 8. Mai. In der Hauptstadt beginnt das digitale Klassentreffen Deutschlands, die „re:publica“. Dort geht es um die digitale Zukunft, die Konferenz ist eine der wichtigsten Medien-Bühnen der Republik. Dort spricht zu Gerechtigkeit und Arbeit der Zukunft wieder nicht der Kandidat, sondern Arbeitsministerin Andrea Nahles, die grundsätzlich wird: Nahles lehnt das von vielen diskutierte und den meisten re:publika-Teilnehmern favorisierte „Grundeinkommen“ als Sozial-Dumping ab und wirft ihre Idee eines „Erwerbstätigenkontos“ für jeden 18-Jährigen in den Ring: Sozusagen als „soziales Erbe“ soll jeder zwischen 15 000 bis 20 000 Euro für Fortbildung, Gründungen und Ehrenamts-Zeit erhalten. Ganz neu ist die Idee nicht, Nahles hat sie bereits in einem „Weißbuch Arbeiten 4.0“ publiziert. Aber zum ersten Mal seit Monaten ist die SPD gefühlt mit einem neuen, inhaltlichen Projekt am Start, dass sich mit der Zukunft der Gerechtigkeit befasst.

Die große Sorge im Hinblick auf die Digitalisierung lautet, dass sie in Deutschland zwischen 20 und 40 Prozent der Arbeitsplätze von Jobs kosten könnte, die künftig ein Algorithmus oder ein Roboter erledigen wird. In Nahles’ Ministerium glaubt man nicht, dass die „Arbeit 4.0“ von steuerzahlenden Robotern erledigt wird, während Menschen „Grundeinkommen“ beziehen. Und in der aktuellen Gegenwart gibt es mehr Arbeit als Fachkräfte, die sie erledigen können. Im April ist die Arbeitslosenzahl um 93 000 auf knapp 2.57 Millionen Arbeitslose gesunken (5,8 Prozent). Das sind 175 000 Arbeitslose weniger als vor einem Jahr. Warum sollten die ruhelosen 50-Jährigen aus Martin Schulz’ Erzählungen da nicht mal durchschlafen?

11. Mai, Mönchengladbach, drei Tage vor der Landtagswahl: Andrea Nahles besucht das Ende des Arbeitsmarktes, das kein Aufschwung mehr auf die Beine bringt: Von den knapp 260 000 Einwohnern leben 40 000 von Hartz IV, knapp ein Viertel wäre theoretisch erwerbsfähig; es gibt 2500 offene Jobs im Bezirk der Arbeitsagentur. Jedes dritte Kind wächst mit Hartz IV auf, in einigen Stadtvierteln jedes zweite. Im Landesschnitt gehen maximal drei Prozent ohne Abschluss von der Schule, in Mönchengladbach sind es sieben bis acht Prozent.

Andrea Nahles sitzt mit örtlichen Abgeordneten, der städtischen Sozialdezernentin und Vertretern von sozialen Vereinen im Arbeitlosenzentrum an der Lüpertzender Straße. Hier sind sie stolz, in einer Kantine 40 bis 80 Essen pro Tag auszugeben und so den Kontakt zu Langzeitarbeitslosen zu halten. Auf der Straßenseite gegenüber entstehen Wohnungen für Besserverdienende auf dem früheren Areal eines städtischen Schwimmbads.

Nahles stellt eine Idee vor: Neustart eines öffentlichen Beschäftigungssektors für Langzeitarbeitslose. Fünf Jahre 100 Prozent Finanzierung durch den Bund, 100 000 Arbeitsplätze vor allem für Hartz IV-Empfänger mit Minderjährigen im Haushalt, dazu das sozialpädagogische Begleitpersonal. Kosten: zwei Milliarden Euro. Damit müsse man sich in der nächsten Legislaturperiode beschäftigen. Der unsichtbare Kanzlerkandidat taucht erst nach der verlorenen NRW-Wahl wieder auf; er überreicht wieder Verliererblumen.

19. Mai, Düsseldorf: Martin Schulz steht auf dem Dachboden der NRW-Parteizentrale vor einer Fotowand und ist der Partei dankbar, dass sie sich so schnell neu aufstellt. Mit dem designierten Kraft-Nachfolger Mike Groschek verbinde ihn eine lange Freundschaft. Seit vielen Jahren verfolgten sie die gleichen Ziele, kämen aus dem gleichen Lager, sagt Schulz. Groschek wisse, wie man Wahlkampf macht. Die Partei sei außergewöhnlich geschlossen, und er spüre bundesweit einen energischen Willen, den Kampf aufzunehmen.

Dass alles sagt Schulz längst nicht mehr mit der Euphorie des heißen Herzens, mit der er vor 115 Tagen verkündet hat, er wolle Kanzler werden. Aus Schulz spricht eine Stimme kalter Inbrunst. Dann geht er. Bis zum Programm-Parteitag am 25. Juni in Dortmund muss ihm irgendetwas einfallen.

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