Jeder vierte Beschäftigte erhält weniger als 9,15 Euro

Berlin/Duisburg (dpa) - Knapp acht Millionen Menschen in Deutschland müssen laut einer Studie mit einem Niedriglohn von weniger als 9,15 Euro brutto pro Stunde auskommen.

Fast ein Viertel der Beschäftigten in Deutschland - etwa 23 Prozent - arbeiten im Niedriglohnsektor, wie das Institut für Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Universität Duisburg-Essen herausfand. Über die Untersuchung berichtete die „Süddeutsche Zeitung“ am Mittwoch. Demnach stieg die Zahl der Niedriglohn-Empfänger zwischen 1995 und 2010 um mehr als 2,3 Millionen.

Im Durchschnitt bekamen die Niedrigverdiener im Jahr 2010 6,68 Euro im Westen und 6,52 Euro im Osten. Von ihnen erhielten mehr als 4,1 Millionen weniger als sieben Euro, gut 2,5 Millionen weniger als sechs Euro. Knapp 1,4 Millionen bekamen sogar weniger als fünf Euro.

Knapp jeder Zweite der niedrig bezahlten Menschen arbeitet dabei voll und nicht Teilzeit. So gibt es nach den Berechnungen allein fast 800 000 Vollzeit-Beschäftigte, die weniger als sechs Euro bekommen. Sie kamen auf einen Monatslohn von unter 1000 Euro brutto.

Laut den Forschern ging der Anteil der Beschäftigten im Niedriglohnsektor insgesamt von 23,6 Prozent im Jahr 2009 auf 23,1 Prozent im vergangenen Jahr zurück. Zu dem Sektor zählen die Forscher Beschäftigte, die weniger als zwei Drittel des mittleren Stundenlohns von 13,73 Euro verdienen. Dies entspricht dem von den Forschern angesetzten Wert von 9,15 Euro.

Betroffen davon waren 2011 nach IAQ-Berechnungen rund 7,9 Millionen abhängig Beschäftigte. Schwarzarbeiter seien von der Studie nicht erfasst worden, sagte Mit-Autorin Claudia Weinkopf. Erstmals wurden Schüler, Studenten und Rentner miteinbezogen. Bislang habe man sich lediglich auf die Hauptbeschäftigtengruppen konzentriert. Ausgewertet wurden bereits vorliegende Daten des sozio-ökonomischen Panels, einer Befragung von 12 000 Privathaushalten.

Das Bundesarbeitsministerium sieht bei der Entwicklung des Niedriglohnsektors „keine Dramatik“. Betrachte man die Zeit seit 2003, so habe der Anteil der Geringverdiener unter Schwankungen relativ konstant bei 21 Prozent verharrt, sagte Ministeriumssprecher Jens Flosdorff auf dpa-Anfrage.

Flosdorff wies darauf hin, dass es den Zuwachs vor allem in den Jahren vor 2007 gegeben habe. Zwischen 1995 und 2010 sei zudem die Zahl der Erwerbstätigen von 37,8 auf 40,6 Millionen gewachsen. Er kritisierte an der IAQ-Studie, dass neuerdings auch Studenten und Rentner einbezogen werden. Allein dies führe zu rund einer halben Million Betroffener mehr in der Statistik.

Wenngleich aus den Zahlen „kein dramatischer Trend“ abzulesen sei, müsse man doch auf die Lohnspreizung achten, sagte Flosdorff. „Deswegen wäre es gut, wenn noch in dieser Legislaturperiode ein von den Tarifparteien unabhängig ausgehandelter Mindestlohn käme.“ Laut den Forschern könnte jeder fünfte Beschäftigte von einem gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro profitieren.

Der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion Hubertus Heil warf dem Bundesarbeitsministerium vor, die Augen vor der Realität zu verschließen, wenn es die Entwicklung als nicht dramatisch bezeichne. Deutschland brauche einen allgemeinen, gesetzlichen Mindestlohn.

Auch die Grünen forderten Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) auf, einen Mindestlohngesetzentwurf auf den Tisch legen. „Wenn fast ein Viertel der Beschäftigten mit Niedriglöhnen abgespeist wird, ist Deutschland auf dem Weg zur prekären Republik“, sagte die Sprecherin für Arbeitsmarktpolitik, Brigitte Pothmer.

DGB-Vorstandsmitglied Claus Matecki erklärte, Billiglohnmodelle gehörten endlich ausgetrocknet. „Jede weitere Verzögerung bei der Einführung eines Mindestlohns von 8,50 Euro pro Stunde ist ein Schlag ins Gesicht der Beschäftigten und eine mutwillige Aushöhlung der Steuer- und Sozialkassen.“

Der Sozialverband Deutschland (SoVD) forderte umgehende Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Niedriglohnsektors in Deutschland. SoVD-Präsident Adolf Bauer rief zu Protesten für den Fall auf, dass die Politik in dieser Frage weiterhin auf der Stelle trete.

Die Union hatte sich im November erstmals für eine verbindliche Lohnuntergrenze ausgesprochen. Die Wirtschaftsverbände lehnen einen Mindestlohn ab. Sie befürchten, dass er massenhaft Jobs vernichtet.

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