Grüne wollen Spitzenkandidaten per Urwahl bestimmen

Berlin (dpa) - Die Grünen wollen als erste Partei in Deutschland ihre Spitzenkandidaten für den Bundestagswahlkampf per Urwahl bestimmen. Die rund 60 000 Mitglieder sollen dabei im Herbst über ein Spitzenduo für die Wahl im kommenden Jahr abstimmen.

Falls sich nicht mehr als zwei Anwärter für den Posten bewerben und die Mitgliedern folglich gar nichts zu entscheiden hätten, soll auf die Urwahl verzichtet werden.

Die Parteivorsitzenden Claudia Roth und Cem Özdemir sowie die Fraktionsvorsitzenden Renate Künast und Jürgen Trittin einigten sich nach Informationen der Nachrichtenagentur dpa am Samstag in der Grünen-Zentrale in Berlin auf dieses Verfahren. Auch der „Tagesspiegel“ und die „Süddeutsche Zeitung“ berichteten darüber. Nach einem entsprechenden Vorstandsbeschluss soll dieser Ausweg aus dem Führungsstreit der Grünen dem Parteirat an diesem Montag zur Diskussion gestellt werden. Ein kleiner Parteitag in Lübeck soll Ende April die Entscheidung treffen.

Als wahrscheinlich gilt bei den Grünen, dass sich Trittin für die Spitzenkandidatur bewirbt. Lediglich Roth hat sich aber bereits entsprechend erklärt. Ob auch Künast und Özdemir antreten wollen, blieb bei dem Führungstreffen dem Vernehmen nach offen. Auch könnte es weitere Anwärter aus der Partei geben.

Künast gilt seit dem gescheiterten Versuch im vergangenen Jahr, Regierende Bürgermeisterin von Berlin zu werden, als geschwächt. Özdemir hatte mit seiner Ankündigung, er wolle erneut Parteichef werden sowie in den Bundestag einziehen, Spekulationen über einen Verzicht auf die Spitzenkandidatur genährt. Doch an der Basis sollen alle vier Rückhalt genießen, heißt es von führenden Funktionären.

Künast habe in der Runde zunächst für die ursprünglich auch von Roth favorisierte Lösung geworben, als Spitzenquartett anzutreten, hieß es. Doch dem steht das Szenario entgegen, dass die Grünen ohne personelle Zuspitzung nicht ausreichend wahrgenommen werden könnten - zumal ihr Höhenflug bei den Umfragen Monate zurückliegt.

Roth war mit dem Vorschlag einer Urwahl am Frauentag vorgeprescht, nachdem es vermehrt Stimmen in der Partei für Trittin als alleinigen Spitzenkandidaten gegeben hatte. Eine einzelne Männerspitze wollte Roth nicht hinnehmen. Diese gab es bei den Grünen bisher nur bei Joschka Fischer.

Eine Urwahl könnte die Karten bei den Grünen neu mischen. Zwar soll dem Spitzenduo mindestens eine Frau angehören. Das entspricht der Satzung. Doch könnte mit der Praxis gebrochen werden, dass sowohl der linke und als auch der Realo-Flügel repräsentiert werden muss - etwa im Fall der Variante Roth/Trittin. Beide zählen zur Parteilinken.

Vergleichbare Mitgliederbefragungen haben Seltenheitswert. 1993 setzte sich bei einer SPD-Mitgliederbefragung der damalige rheinland-pfälzische Ministerpräsident Rudolf Scharping als Parteichef gegen den niedersächsischen Ministerpräsidenten Gerhard Schröder und Präsidiumsmitglied Heidemarie Wieczorek-Zeul durch.

Viele Grüne sehen einer möglichen Urwahl mit gemischten Gefühlen entgegen. Es könne ein Rummel werden, an dessen Ende doch nur zwei der altbekannten Führungsgesichter gekürt würden, wird befürchtet. Die Unterlegenen könnten beschädigt werden. Parteistrategen betonen aber, der interne Wahlkampf könne auch dazu dienen, unterschiedliche Meinungen über das Programm zu debattieren. Beim Parteitag im November in Hannover sollen die Kandidaten feststehen. Falls die Urwahl ausfällt, könnte das Spitzenduo hier von den Delegierten gewählt werden.

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