Gedenken in Hanau Die Rede von Bundespräsident Steinmeier im Wortlaut

Ein „Anschlag auf unsere Freiheit“ - so bezeichnet Bundespräsident Steinmeier beim zentralen Gedenkakt in Hanau den Anschlag Mitte Februar. Seine Rede im Wortlaut.

 Eine Kerze brennt bei der Gedenkfeier für die Opfer des Anschlags von Hanau im Congress Park Hanau.

Eine Kerze brennt bei der Gedenkfeier für die Opfer des Anschlags von Hanau im Congress Park Hanau.

Foto: dpa/Boris Roessler

„Jedes Wort – zu viel und doch zu wenig. Wer könnte den trösten, dem das Liebste genommen ist.

Wir gedenken heute unserer ermordeten Mitbürgerinnen und Mitbürger Ferhat Unvar, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Gökhan Gültekin, Hamza Kurtović, Kaloyan Velkov, Vili Viorel Păun, Said Nesar Hashemi, Fatih Saraçoğlu sowie der Mutter des Attentäters, Gabriele Rathjen, die ebenfalls zu den Opfern zählt.

Zehn Menschen, zehn Lebensgeschichten, zehn Lebensträume gezielt und brutal ausgelöscht. Der mörderische Terror traf sie in einer Shisha-Bar. An einem Ort, wo sie sich sicher fühlten, sich nicht erklären mussten. Sie kehren nicht zurück.

Um sie trauern Partner, Eltern, Kinder, Geschwister, Onkel, Tanten und Cousinen, Freundinnen, Freunde und Kollegen. Mit ihnen trauern die Hanauerinnen und Hanauer und Menschen in ganz Deutschland. Wir alle sind erschüttert über ein terroristisches Verbrechen, einen brutalen Akt mörderischer Gewalt. In unsere Trauer mischen sich Bitterkeit und Zorn.

Erneut stehe ich vor Ihnen. Als Mitbürger, um Ihren Schmerz zu teilen. Und als Bundespräsident mit der klaren Botschaft: Jeder Mensch, der in unserem gemeinsamen Land lebt, muss in Sicherheit und Frieden leben können. Unser Staat hat die Pflicht, dieses Recht zu schützen. Dafür muss er mehr tun. Dafür muss er alles tun. Diese Verantwortung tragen zuallererst die Institutionen unseres Landes, diese Verantwortung tragen die Frauen und Männer an der Spitze. Und diese Verantwortung tragen wir alle. Wir sind gefordert, zusammenzustehen gegen Hass und Hetze, gegen Terror und Gewalt. Daran werden wir gemessen.

Denn dieses Verbrechen geschah nicht zufällig. Diese Tat hat eine Vorgeschichte. Eine Vorgeschichte der Ausgrenzung und Diskriminierung von Menschen mit Migrationsgeschichte, von Muslimen, von angeblich Fremden. Eine Vorgeschichte geistiger Brandstiftung und Stimmungsmache. Eine Vorgeschichte des Hasses, der sich in den sogenannten sozialen Medien, aber längst nicht nur da, schonungslos über seine Opfer ergießt. Es ist dieses Klima, in dem die Hetzer immer schamloser werden, immer offener agieren, sich nicht mehr verstecken. Es ist dieses Klima, in dem Terroristen zur Waffe greifen, sich gerechtfertigt fühlen zu morden.

"Dieser Angriff war ein Angriff auf uns alle." So versuchen wir nach schrecklichen Ereignissen wie denen in Hanau regelmäßig, unsere Solidarität mit den Opfern auszudrücken.

In den letzten Tagen haben einige von Ihnen, den Betroffenen, den Angehörigen, den Mitgemeinten, lautstark widersprochen: Nein, dieser Angriff galt nicht uns allen. Er galt denen, die dunkle Haare haben, die einen ausländischen Namen tragen, die eine andere Religion haben, in deren Familie es Migration aus dem Süden gab, und sei das schon viele Generationen her.

Als Mann mit weißen Haaren und weißer Haut, dessen Mutter aus Breslau nach Westdeutschland kam, muss ich meine Zugehörigkeit zu unserem Land nicht begründen. Ich erlebe nicht, wie mich im Vorbeigehen abschätzige Blicke treffen, wie verletzende Bemerkungen fallen, herabsetzende Witze gerissen werden, wie Vorstellungsgespräche, Wohnungssuche und Behördengänge zum Spießrutenlauf werden.

Ich weiß nicht, wie es sich anfühlt, im Alltag ausgegrenzt zu werden – lange bevor es zu Gewalt kommt. Wie entmutigend es ist, ein Leben lang darum zu kämpfen, endlich ganz dazuzugehören. Wie zermürbend, immer und immer wieder – mal bewusst, mal nicht – als Fremder behandelt zu werden.

Und ich darf frei von der Sorge leben, dass meiner Frau, meiner Tochter, meiner Familie Gewalt angetan wird, nur weil sie anders aussehen oder anders glauben.

Auch wer diese Erfahrung nicht teilen kann, muss dennoch um sie wissen. Ja, es gibt Rassismus in unserem Land – und das nicht erst seit einigen Wochen. Ja, es gibt weit verbreitete Muslimfeindlichkeit. Menschen mit dunklerer Hautfarbe oder mit Kopftuch erleben Diskriminierungen, werden Opfer von Angriffen, von Beleidigungen und von Gewalt. Sie alle haben ein Recht darauf, dass ihre Mitbürger Anteil nehmen, lernen, unterstützen, widersprechen, eingreifen. Sie alle haben ein Recht darauf, dass ihr Staat, wo schützende Gesetze durch menschenfeindliche Handlungen gebrochen werden, hinsieht, verfolgt, bestraft. Sie alle haben das Recht auf einen Staat, der sie schützt.

Der Anschlag galt den angeblich Fremden. Getroffen hat er Menschen. Ganz unterschiedliche Menschen. Männer und Frauen. Musikfans und Sportliebhaber. Menschen, die hier lebten, lachten, weinten, Pläne für die Zukunft schmiedeten. Die hier aufgewachsen sind, Kinder bekommen haben, gearbeitet, studiert, gefaulenzt haben. Die auf dem Bau gebuckelt oder Gedichte geschrieben haben. Die katholisch, orthodox, muslimisch, evangelisch waren – der eine praktizierend, der andere auf dem Papier. Die sich über die Politik geärgert, gefreut, die Köpfe heißgeredet haben, die gewählt haben und sich einmischten oder auch nicht. Die der Stolz ihrer Eltern waren, Stützen ihrer Familien und Freunde.

Ferhat war Firmengründer und mochte Rapmusik. Mercedes war eine offene, lebensfrohe Frau und Mutter von zwei Kindern. Sedat besaß eine Bar und konnte keiner Fliege etwas zuleide tun. Gökhan war Maurer und arbeitete als Kellner, er stand kurz vor der Verlobung. Hamza hatte nach erfolgreicher Ausbildung gerade seinen ersten Job angetreten. Said Nesar war Hanauer – und immer für die Menschen da, die seine Hilfe brauchten. Kaloyan unterstützte seine Familie, wo er nur konnte, und war Vater eines kleinen Sohnes. Viorel war Kurierfahrer und viel auf Achse, er war das einzige Kind seiner Eltern. Fatih wollte sich in Hanau selbstständig machen, er war Regensburger.

Sie waren unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger.

Sie waren so viel mehr als das, was der Attentäter in ihnen sah.

Für einige der Opfer mag ihre Herkunft bedeutsam gewesen sein, für andere weniger. Längst ist die Realität in unserem Land vielfältiger geworden. Aus der Spannung von Dagewesenem und Hinzugekommenem, aus Austausch und Nebeneinander hat sich etwas ganz eigenes Neues entwickelt, das gemeinsam zu uns gehört. Gehen wir deshalb nicht denen auf den Leim, die uns zu spalten versuchen mit dem simplen Schema von "wir" gegen "die".

Denn das ist die Logik des Terrors. Das ist die Logik des Hasses. Menschen in Gruppen zu zwingen. Sie zu reduzieren auf ihre Herkunft, ihre Religion oder ihre Hautfarbe. Ihnen ihre Einzigartigkeit zu nehmen. Eine Einzigartigkeit, die jeden Menschen ausmacht.

Das meint Artikel 1 unseres Grundgesetzes. Die Würde des Menschen ist unantastbar.

Das meinen wir doch, wenn wir sagen: Dieser Anschlag ist ein Anschlag auf uns alle. Wir alle sind getroffen, wir alle verletzt – wir alle in der Pflicht.

Es ist ein Anschlag auf unser Grundverständnis vom Zusammenleben. Jeder Mensch hat die gleiche Würde, die gleichen Rechte. Es gibt keine Bürger zweiter Klasse, keine Abstufungen im Deutschsein.

Es ist ein Anschlag auf unsere Freiheit. Jeder Mensch bestimmt selbst, wer er ist. Was ihn ausmacht. Zu wem er gehört. Wie er sich verändert.

Es ist ein Anschlag auf den gesellschaftlichen Frieden. Wer den Einzelnen nur noch als Teil einer Gruppe sieht, befördert die Spaltung zwischen "uns" und "denen". Aus Mitbürgern werden erst Fremde und dann Feinde gemacht. Austausch und Verständigung ist nicht mehr möglich. Hass und Hetze vergiften Debatten und Begegnungen. Am Ende steht die Gewalt.

Das ist gemeint, wenn wir sagen: Diese Anschläge treffen uns alle – und wir alle müssen ihnen entgegentreten. Die ganz große Mehrheit der Menschen in Deutschland ist gegen Ausgrenzung und Ressentiments, gegen Hass und Gewalt. Aber es reicht nicht, zu wissen, dass man in der Mehrheit ist. Das Schweigen der Vielen darf nicht zur Ermutigung weniger werden. Nein, die Mehrheit muss sich zeigen, immer wieder, im Verein, am Stammtisch, im Fußballstadion.

Unsere Grundwerte, unsere Freiheit, unser Frieden – sie sind ohne uns nicht gesichert. Demokratie lebt nicht, weil das Grundgesetz sie verordnet. Sie lebt und bleibt, wenn wir sie wollen und uns in ihr engagieren – gegen die, die sie in Frage stellen oder bekämpfen. Wir müssen sie aktiv verteidigen. Wir. Der Staat. Ich.

Zehn Menschen sind gestorben. Sie haben eine Lücke gerissen, die bleiben wird. In unsere Trauer und unsere Wut mischt sich Entschlossenheit: Wir stehen zusammen. Wir halten zusammen. Denn wir wollen zusammen leben.

Und deshalb hören wir zu. Sehen den Einzelnen. Halten Unterschiede aus. Denn wir alle gehören zu diesem Land.

Auch Ferhat Unvar, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Gökhan Gültekin, Hamza Kurtović, Kaloyan Velkov, Vili Viorel Păun, Said Nesar Hashemi und Fatih Saraçoğlu gehörten zu uns – jeder auf seine eigene Weise. Als Teil von uns bewahren wir sie in unserer Erinnerung.“

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