Die Nichtwähler als stärkste Kraft?

Die Wahlbeteiligung sinkt seit Jahren. Über die Gründe streiten die Experten.

Berlin. Die Nichtwähler sind stark im Kommen. Lange vorbei die Zeit, als noch wie in den 1970er Jahren mehr als 90 Prozent der wahlberechtigten Bürger tatsächlich von ihrem Wahlrecht Gebrauch machten.

Vorläufiger Tiefpunkt bei der Wahlbeteiligung ist 2009, als nur noch gut zwei Drittel der Stimmberechtigten ihr Kreuzchen bei einer Partei machten. Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik bildeten die Wahlabstinenzler mit einem Anteil von rund 30 Prozent die stärkste Kraft. Unter Berücksichtigung aller Wahlberechtigten kam die Union seinerzeit auf einen Anteil von 23,6 Prozent. Bei der SPD reichte es für nur 16,1 Prozent. Weil sich das offizielle Wahlergebnis jedoch stets an der Zahl der abgegebenen gültigen Stimmen bemisst, waren es 33,8 Prozent für die Union beziehungsweise 23 Prozent für die SPD.

Der Duisburger Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte erklärt sich den Aufwind der Nichtwähler mit dem Trend zur Individualisierung in der Gesellschaft: Die Menschen seien heute weniger bindungs- und stärker nutzenorientiert, auch im Alltagsleben, erläutert Korte gegenüber unserer Zeitung. „Die Parteien sind da nur ein Abbild der Gesellschaft.“ Dafür spricht die Tatsache, dass sich viele Bürger in ihrem direkten Umfeld engagieren. Siehe „Stuttgart 21“ oder die Proteste gegen Flughäfen und Windparks.

Nach landläufiger Meinung ist es vor allem die kaum noch vorhandene Unterscheidbarkeit der Parteien, also letztlich ein Mangel an polarisierenden Themen, die die Zahl der Nichtwähler steigen lässt. Forsa-Chef Manfred Güllner hält von dieser These wenig. Umfragen zeigten, dass viele Nichtwähler durchaus „konsensorientiert“ seien. „Ihr Hauptmotiv ist die Überzeugung, dass Politiker ihnen schlicht nicht mehr zuhören, ihre Sorgen und Nöte ignorieren“, so Güllner gegenüber unserer Zeitung. Dabei ist der Nichtwähler keineswegs eine homogene Spezies. Güllner spricht vielmehr von „Wählern auf Urlaub“, was übersetzt bedeutet, dass sie für die Politik nicht für immer und ewig verloren sind.

Nach einer Forsa-Umfrage zählt sich nur etwa jeder siebte Wahlabstinenzler zu den Dauerverweigerern. Das Problem dabei: Es sind überproportional viele Geringverdiener und wenig Gebildete, die seitdem kein Wahllokal mehr betreten haben. „Diejenigen, die abgehängt sind, sind auch politisch apathisch“, sagt Korte. Und wenn sich die soziale Schere weiter öffne, werde ihr Anteil noch größer. „Eine gespaltene Demokratie ist jedoch für die Politik schwer zu steuern“, warnt der Politik-Experte. Obendrein mindert ein schlechtes Wahlinteresse die Legitima-tion politischer Entscheidungen.

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