Deutschland steht vor dritter großer Koalition

Berlin (dpa) - Die dritte große Koalition aus Union und SPD ist so gut wie besiegelt - jetzt kommt es nur noch auf die Zustimmung der SPD-Basis an.

Kanzlerin Angela Merkel (CDU) sagte am Mittwoch nach Unterzeichnung des 185-seitigen schwarz-roten Regierungsprogramms: „Der Geist dieses Vertrages heißt, dass wir eine große Koalition sind, um auch große Aufgaben für Deutschland zu meistern.“ Zuvor hatten beide Seiten in einem abschließenden Verhandlungsmarathon alle wichtigen Streitpunkte wie Steuern, Rente, Mindestlohn und Pkw-Maut aus dem Weg geräumt.

Ziel ist nun, dass das neue Kabinett noch vor Weihnachten die Arbeit aufnimmt. Voraussetzung dafür: dass der Koalitionsvertrag bei der Abstimmung unter den insgesamt 475 000 SPD-Mitgliedern nicht durchfällt. Mit Rücksicht auf Empfindlichkeiten der SPD-Basis sollen die genaue Verteilung der Ministerien und die Besetzung der Chefposten erst Mitte Dezember bekanntgegeben werden. SPD-Chef Sigmar Gabriel zeigte sich aber sicher, dass es ein Ja geben wird. Auch wichtige Parteilinke signalisierten Zustimmung.

Der potenzielle künftige Vizekanzler sprach ebenfalls von einer „Koalition der großen Aufgaben“. Der ausgehandelte Vertrag sei aber auch für die „kleinen Leute“. Zur Begründung führte Gabriel die Vereinbarungen für einen gesetzlichen Mindestlohn und Verbesserungen bei der Rente an. Auch Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) zeigte sich zufrieden mit den Vereinbarungen.

Wenn die SPD-Basis grünes Licht gibt, ist die Neuauflage der großen Koalition unter Merkel nach vier Jahren Schwarz-Gelb perfekt. Für Deutschland wäre es dann das dritte Mal nach 1966-1969 und 2005-2009, dass Union und SPD gemeinsam regieren. Kritik kam von der Opposition, die im Bundestag künftig nur noch aus Linkspartei und Grünen bestehen würde. Beide warfen Schwarz-Rot soziale Ungerechtigkeit vor, insbesondere zulasten der jüngeren Generation.

Zu den zentralen Vereinbarungen gehört, dass es in den nächsten vier Jahren keine neuen Steuererhöhungen geben soll. Nur noch nächstes Jahr sollen neue Schulden gemacht werden dürfen. Die Verbesserungen bei der Rente sollen bis 2017 nahezu komplett aus der Rentenkasse finanziert werden. Zweifel an der Finanzierbarkeit zusätzlicher Milliarden-Ausgaben wies Merkel zurück. „Wir haben das alles sehr sorgsam durchgerechnet.“ In den Verhandlungen war von einem Spielraum von 23 Milliarden Euro die Rede. Die Kosten - etwa zur Entlastung von Kommunen, der Länder oder für mehr Investitionen in Verkehr, Bildung und Forschung - könnten sich aber noch erhöhen.

Erstmals in der bundesdeutschen Geschichte wurde die Verteilung der Ressorts im Koalitionsvertrag ausgeklammert. Auf Wunsch der SPD sollen Zuschnitt und Besetzung des Kabinetts erst nach der SPD-Mitgliederbefragung bekanntgegeben werden. Damit will die SPD-Führung den Eindruck vermeiden, ihr gehe es vor allem um Posten. Merkel sagte aber, die Parteichefs hätten sich mit dem Thema bereits befasst. Vermutet wird, dass die Personalien zwischen ihr, Seehofer und Gabriel längst geklärt sind.

Als sicher gilt, dass die SPD sechs Ministerien bekommt, die CDU neben Kanzlerin und Kanzleramtsminister fünf sowie die CSU drei. Gabriel könnte ein neues „Superministerium“ übernehmen, das auch für die Energiewende zuständig ist. Behält CDU-Finanzminister Wolfgang Schäuble seinen Posten, dürfte SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier ins Auswärtige Amt zurückkehren. Für die CSU soll Generalsekretär Alexander Dobrindt neu ins Kabinett.

Gabriel äußerte die Erwartung, die Basis werde „mit Sicherheit“ zustimmen. Auch Parteilinke wie Ralf Stegner und zahlreiche SPD-Spitzenpolitiker in den Bundesländern warben für ein Ja. Kommt es so, könnte Merkel am 17. Dezember im Bundestag als Kanzlerin wiedergewählt werden. Noch am selben Tag würde das neue Kabinett dann die Arbeit aufnehmen - fast drei Monate nach der Bundestagswahl. Merkel sagte zu der nochmaligen Wartezeit: „Warum soll ich denn nicht warten, die 14 Tage? Ich sitze ruhig und mache meine Arbeit.“

Der neue gesetzliche Mindestlohn soll 2015 kommen und bundesweit 8,50 Euro pro Stunde betragen. Allerdings können die Tarifpartner bis 2017 auch niedrigere Abschlüsse vereinbaren. Der Rentenkompromiss sieht so aus, dass die von der SPD geforderte abschlagfreie Rente mit 63 Jahren nach 45 Beitragsjahren und die von der Union versprochene Besserstellung von Müttern, die vor 1992 Kinder bekommen haben, 2014 eingeführt werden. Ferner soll eine „solidarische Lebensleistungsrente“ für Geringverdiener kommen.

Auch im Streit über die doppelte Staatsbürgerschaft erzielten beide Seiten eine Verständigung. Danach müssen sich in Deutschland geborene Kinder ausländischer Eltern künftig nicht mehr bis zum 23. Geburtstag für einen der beiden Pässe entscheiden. Unterschiedlich wurde der Kompromiss zur Pkw-Maut für Ausländer ausgelegt. Seehofer sagte: „Die Pkw-Maut steht im Vertrag.“ Bedingung ist aber, dass die Abgabe nur ausländische Autofahrer belastet und zugleich mit dem Europarecht vereinbar ist. Die umstrittene Vorratsdatenspeicherung wollen Union und SPD möglichst schnell wieder einführen. Ziel sei aber, die Speicherfrist auf drei Monate zu verkürzen.

Die Bundestagsfraktionen von Union und SPD stimmten dem Koalitionsvertrag mit großer Mehrheit zu. Bei der Union gab es nach Angaben eines Sprechers drei Nein-Stimmen sowie fünf Enthaltungen, bei der SPD lediglich zwei Enthaltungen. Der CDU-Bundesvorstand billigte den Vertrag am Abend einstimmig.

Der Wirtschaftsflügel der Union äußerte Bedenken: In Summe seien die geplanten Maßnahmen nicht geeignet, die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands zu erhalten und auszubauen, die Regelungen zur Rente mit 63 seien ein „völlig falsches Signal“, Maßnahmen für Wachstumsimpulse fehlten.

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