Politik Bundeskanzlerin beim Bürgerdialog: Ganz ohne "Merkel muss weg"

Die Kanzlerin startet in Jena mit einer Bürgerdiskussion in die zweite Jahreshälfte.

Politik: Bundeskanzlerin beim Bürgerdialog: Ganz ohne "Merkel muss weg"
Foto: Arifoto Ug/Michael Reichel/dpa

Jena. Brave Bürger stellen kurze Fragen - ausgeruhte Kanzlerin antwortet lange. So ungefähr lässt sich der „Bürgerdialog“ zusammenfassen, den Angela Merkel am Dienstag in Jena durchführt. "Sprechen wir über Europa“, lautet das Thema. Es ist Merkels erste öffentliche Veranstaltung nach der Sommerpause. Und keine große Herausforderung.

Das hat zum einen mit den 55 Teilnehmern zu tun. Die Leute sind von örtlichen Regionalzeitungen ausgewählt worden, alle sind jüngeren oder mittleren Alters und entstammen eher einer gehobenen Bildungsschicht.

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In Jena ist man wegen der Universität und der Startups ohnehin etwas weltoffener als in anderen Gegenden des Ostens. „Merkel-muss-weg“-Demonstranten jedenfalls fehlen in- wie außerhalb des Gebäudes. Sie kämen auch nicht weit. Praktisch vor jeder Tür und an jeder Ecke des weitläufigen Areals, einem ehemaligen Umspannwerk, stehen Sicherheitsbeamte. Die Zahl der professionellen Teilnehmer der Veranstaltung übertrifft die der Bürger bei weitem.

Zudem begünstigt das Format den etwas einseitigen Verlauf. Merkel steht, hat immer ein Mikrofon in der Hand. Die Bürger sitzen und müssen warten, bis sie dran sind. Die Leute stellen meist nur kurze Fragen. Keiner gibt eine Stellungnahme ab oder reitet gar eine Attacke. Wieso verkauft sich Europa so schlecht? Wie wird Deutschlands Wirtschaft den Brexit verkraften? Was kann man gegen den Mangel an Pflegekräften tun? Wie werden die kleinen Agrarbetriebe gefördert? Es sind Steilvorlagen für die Kanzlerin, Stichworte, nach denen sie jedes Mal ihre eigene Politik ausführlich erklären kann.

Die Rechten, sonst in Thüringen keine Mangelware, sind in der Runde nicht vertreten. Wenn kritische Fragen kommen, dann sind sie eher links angehaucht. Dass Deutschland und Europa zu wenig für die Umwelt tun, bemängelt zum Beispiel eine junge Frau, die hinzufügt: „Was soll ich meinen Kindern mitgeben, wenn hier alles verbrannt ist“. Merkel referiert sofort die Leistungen der EU für den Naturschutz oder gegen Plastik. „Da ist Europa schwer hinterher“. Das umstrittenste Thema, die Flüchtlinge, kommt zwar vor, aber nicht im Sinne der Gegner der Merkelschen Politik. Wie kann die Integration der Zuwanderer besser gelingen, will zum Beispiel eine Frau wissen. Und ein Mann kritisiert, dass 2014 die Mittel für die Lager des UN-Flüchtlingshilfswerks gekürzt wurden, auch von Deutschland, was die Flüchtlingswelle erst mit ausgelöst habe. Merkel gibt unumwunden zu, „dass auch wir damals Riesenfehler gemacht haben“. Zu ihrer Entscheidung vom Herbst 2015, die Ungarn-Flüchtlinge nicht abzuweisen, steht sie aber.

Bevor die 55 Bürger in einem studioähnlichen Raum mit Merkel zusammengebracht werden, nehmen sie an einem „Vorbereitungs-Workshop“ teil, der stark an Labore der Verhaltensforschung erinnert. Schon fünf Minuten bevor es losgeht, habe alle an runden Tischen Platz genommen. „Das flutscht ja prächtig“, sagt die Moderatorin von einer Münchener Coaching-Agentur zufrieden. Von außen beobachten rund zehn Mitarbeiter des Kanzleramtes, was die Leute mit dicken Filzstifen zu vorgegebenen Leitfragen auf grüne Kärtchen schreiben. Als abgestimmt wird, finden 49 Teilnehmer, dass Europa ihnen mehr Vorteile bringe. Nur drei sehen mehr Nachteile. Die Moderatorin sagt: zum Schluss: „Jetzt habe ich Sie da, wo ich Sie haben wollte. Sie diskutieren fleissig“. Alles werde ausgewertet und am Ende irgendwie sogar im Europarat von den EU-Regierungschefs besprochen werden, verspricht sie. Die Veranstaltung ist schließlich Teil einer europaweiten Aktion, die noch bis zum Herbst läuft.

Der Bürgerdialog wird im Fernsehen übertragen. Merkel merkt man an, dass ihr das zu jeder Sekunde bewusst ist. Launig redet sie und volksnah. Als es um europäische Bürokratie geht, sagt sie: „Was glauben Sie, was ich mich schon mit Bananen beschäftigen musste“. Mit der Größe, mit der Krümmung. Oder mit Kühen, die einen Schein brauchen, wenn sie nicht auf der Weide können. „Das ist doch das Allerletzte“, sagt Merkel. Einige lachen. Eine junge Frau wagt es schließlich doch, der Kanzlerin etwas kritischer zu kommen. Bei der letzten Wahl habe die CDU ja doch Abstriche machen müssen, viele hätte bei der AfD ihr Kreuz gemacht, „wie so ein Hilferuf“. Wie sie diese Wähler denn zurückgewinnen wolle? Merkels kurze, aber bestimmte Antwort: „Nicht immer darüber reden, welche Probleme noch nicht gelöst sind, sondern einfach lösen. Machen“.

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