Portrait Andrea Nahles: Manchmal ist sie zum Fremdschämen

Die 47-Jährige ist jetzt die starke Frau der SPD und wahrscheinliche neue Kanzlerkandidatin. Authentisch kann sie wie keine andere - aber sie hat auch ihre schlimmen Momente. Ein Portrait.

Portrait: Andrea Nahles: Manchmal ist sie zum Fremdschämen
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Berlin. Auch Andrea Nahles hatte mehr als 36 Stunden keinen rechten Schlaf gekriegt, als sie am Mittwochabend im ZDF nach durchverhandelter Nacht bei „Was nun, Frau Nahles“ vernommen wurde. Es war ein bemerkenswerter Auftritt. Die 47jährige Sozialdemokratin sprühte geradezu vor Energie, Freundlichkeit und Witz. Man erlebte eine designierte neue SPD-Chefin, die weiß, was sie will. Es kam zur „Satzvervollständigung“ und Nahles musste ergänzen: „Wer sagt, dass ich manchmal zu laut bin“…. „hat recht“, antworte die Politikerin schnörkellos. Und grinste.

So jung sie ist, so viel hat sie schon hinter sich. Schrille Juso-Chefin, Schröder-Gegnerin, später Ministerin. Eine Weile war sie auch mal bloß IG-Metall-Mitarbeiterin. Es ging karrieremäßig oft auf und ab bei ihr, am härtesten als sie 2005 SPD-Generalsekretärin werden wollte und sich in einer Kampfabstimmung im Vorstand sogar durchsetzte. Gegen den Willen des damaligen Vorsitzenden Franz Müntefering, der daraufhin zurücktrat. Woraufhin auch sie auf das Amt verzichtete. „Mein größter Fehler war…“, lautete im ZDF eine weitere Frage. „Dass ich einmal einen Parteivorsitzenden gestürzt habe — unabsichtlich“, antwortete Nahles.

Aber so wie sie die Narbe eines schweren Autounfalls vor fast 30 Jahren unbeeindruckt im Gesicht trägt - von dem auch noch eine Gehbehinderung geblieben ist —, so scheinen sie auch die politischen Narben immer nur stärker gemacht zu haben. Weil sie mit Rückschlägen nicht lange hadert. Hinzu kommt eine gewisse Grundfröhlichkeit, in der sie Angela Merkel ähnelt.

Lange zehrte sie von ihrer Rolle als wichtigste Strippenzieherin der Parteilinken und Anführerin der Agenda-2010-Kritiker. Bei denen hat sie auch heute noch Glaubwürdigkeit, zumal sie als Arbeitsministerin deren Themen Punkt für Punkt abarbeitete. Mindestlohn, Rente mit 63, Eindämmung der Leiharbeit. Nicht ohne Grund beklagte sich Juso-Chef Kevin Kühnert, dass die Urabstimmung über den Koalitionsvertrag jetzt mit der Personalfrage vermischt werde. Kühnert fürchtet, dass viele GroKo-Gegner sich zurückhalten, um Nahles nicht zu schaden. Dabei ist sie längst eine Politikerin der Mitte geworden.

Nahles denkt bei jedem Thema strategisch — wie sind die Machtverhältnisse, wie kann ich mir eine Mehrheit organisieren. Exakte Sach- und Aktenkenntnis kommen hinzu. Und eine sorgsame Beobachtung der politischen Landschaft, Freund wie Feind. Nach der katastrophalen Bundestagswahl hat sie sich sofort den Fraktionsvorsitz gesichert, weil klar war, dass dies eine Schlüsselposition werden würde. Nun, da sie dazu auch noch Parteivorsitzende wird, ist sie ganz klar die starke Frau der SPD. Die Entscheidung über die nächste Kanzlerkandidatur liegt in ihrer Hand.

Nur ihre manchmal überbordende Emotionalität steht ihr noch im Weg. Die Liste der Peinlichkeiten ist lang. „In die Fresse“, „Bätschi“, „Kacke“, „blöder Dobrindt“ - immer wieder gibt es Momente zum fremdschämen. Freilich, bei näherer Betrachtung war das alles nicht wirklich böse gemeint, sondern bloß proletenhaft ausgedrückt. Nahles ärgert sich darüber. Andererseits steht sie zu ihrer Explosivität und zu ihrer Bodenständigkeit als Maurerstochter. Sie komme eben aus der Vulkaneifel, sagt sie dann.

Welche Kraft sie aufbringen kann, konnte man vor drei Wochen bei ihrer legendären Rede auf dem SPD-Parteitag spüren, als sie in wenigen Minuten den Saal rockte. Nahles kann authentisch, man glaubt ihr einfach, wenn sie regelrecht mit Händen und Füßen redet, wenn das Gesicht arbeitet und sich die Stimme fast überschlägt. Damit ist sie in einer verwirrten Partei wie der SPD, die niemandem mehr glaubt, schon gar nicht ihrem Noch-Parteivorsitzenden Martin Schulz, gerade ein großes Pfund.

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