Das Grundgesetz als Magazin 70 Jahre Grundgesetz: „Wir müssen die Werte auch leben“

Düsseldorf · Der Journalist und Verleger Oliver Wurm über die Schönheit des Grundgesetzes und den Erfolg der Idee, aus dem 70 Jahre alten Text ein Magazin zu machen.

 Andreas Volleritsch (l.) und Oliver Wurm haben das Grundgesetz als Magazin herausgegeben.

Andreas Volleritsch (l.) und Oliver Wurm haben das Grundgesetz als Magazin herausgegeben.

Foto: GG/Lars Krüger

124 Seiten Grundgesetz. Als Magazin. Am Kiosk. Eine so verrückte wie letztlich erfolgreiche Idee. Der Journalist und Verleger Oliver Wurm hat sie zusammen mit dem Designer Andreas Volleritsch realisiert. Seit Ende November sind die 100 000 Exemplare der Startauflage im Verkauf – und die Folgeauflage ist schon in Planung. Ein Gespräch über die Begeisterung für einen Gesetzestext, der am 23. Mai 70 Jahre alt wird.

Herr Wurm, welches Verhältnis hatten Sie als ehemaliger Sport- und Publizistikstudent zum Grundgesetz vor Ihrer Magazinidee?

Oliver Wurm: Ein fast nicht vorhandenes in dem Sinne, dass ich mich kaum damit beschäftigt habe. Ich hatte ein Grundvertrauen, dass es gut ist, und wusste, dass wir es in der Schule mal gelesen haben. Ich hatte Deutsch und Politik im Abitur. Danach habe ich mich aber nicht mehr intensiver damit beschäftigt, und das hat, glaube ich, auch mit diesem Grundvertrauen zu tun, dass man in das Grundgesetz hat, ohne genau zu wissen, was drinsteht.

Woher stammt die Idee, dieses Grundgesetz als Magazin herauszugeben, das doch überall als Text zu haben ist?

Wurm: Das hat auch mit der ersten Frage zu tun: Das Grundgesetz war halt da, aber man hat nicht drüber geredet. Aber in den vergangenen zwei, drei Jahren wurde es immer häufiger zitiert und bemüht, vor allen Dingen in den politischen Talkshows. Und am 17. Oktober 2017 habe ich abends Markus Lanz geschaut – und in dieser Sendung schwärmte der Wissenschaftsjournalist Rangar Yogeshwar plötzlich davon, das deutsche Grundgesetz sei eine der schönsten Verfassungen der Welt und alle Menschen im Land müssten es eigentlich mal lesen.

Und diese Aussage hat Sie inspiriert?

Wurm: Ich habe mir dann noch in der Nacht bei der Bundeszentrale für politische Bildung ein kostenloses Exemplar bestellt und es danach förmlich aufgesogen, vor allem die 19 Grundrechte zu Beginn. Nun bin ich Zeitschriftenjournalist und arbeite regelmäßig mit Typografie und Fotografie. Das Gegenteil sah ich vor mir, nämlich eine Bleiwüste in einem schmucklosen Format. Diese Diskrepanz zwischen der Schönheit des Textes und dieser freudlosen Präsentation hat mich regelrecht aufgeregt. So entstand die Idee, ein Magazin daraus zu machen, zeitgemäß und gut lesbar gestaltet. Und dann kamen Ende August 2018 noch die Ereignisse von Chemnitz dazu.

Mit welchen Folgen?

Wurm: Ich bin spontan zur Gegendemonstration gefahren, die unter dem Motto „Wir sind mehr“ stand. Und dort war an einer Häuserwand ein großes Transparent ausgerollt mit dem Satz „Die Würde des Menschen ist antastbar, Stand 27. August 2018“. Da wurde mir klar: Wenn man schon spielerisch mit Artikel 1 umgehen muss, um den Leuten zu zeigen, dass es genau diesen Artikel zu verteidigen gilt, dürfen wir mit der Veröffentlichung des Magazins nicht bis zum 23. Mai 2019 warten, dem 70. Geburtstag der Verfassung. Die Menschen müssen das Grundgesetz lesen und darüber diskutieren, unabhängig von dem anstehenden Jubiläum. Die Basis unseres Zusammenlebens ist dort in einem wahnsinnig klugen und visionären Text festgehalten und den müssen wir jeden Tag verteidigen.

Also hat Ihnen die politische Situation Druck gemacht?

Wurm: Ja, aber Druck im positivsten Sinne. Mehr sogar noch Lust, weil ich die Notwendigkeit plötzlich noch deutlicher sah. Je länger wir an und mit dem Text gearbeitet haben, desto mehr sind wir zu Verfassungspatrioten geworden.

Nach welchen Kriterien haben Sie den Text gestaltet und einzelne Passagen hervorgehoben?

Wurm: An manchen Stellen gibt der Inhalt das Design vor. Die 19 Grundrechte beispielsweise sind so elementar, dass wir ihnen auch optisch viel Raum gegeben haben. Aber weiter hinten gilt das zum Beispiel auch für die Vereidigungsformel des Bundespräsidenten, die Passagen zur Unabhängigkeit der Gerichte oder die Pressefreiheit. Andererseits wollten wir aber natürlich auch vermeiden, dass unser persönliches Wertesystem dem Grundgesetz nun einen neuen Look gibt. Das Layout ist nur ein Angebot. Heribert Prantl hat beispielsweise in der „Süddeutschen Zeitung“ geschrieben, Artikel 19, Absatz 4, sei für ihn ein Hammer, in unserem Layout aber sei das typographisch nur ein Hämmerchen. Das hat dazu geführt, dass dieser Absatz nun im Nachdruck auch optisch ein Hammer ist. Und das ist nicht die einzige Änderung. Wir nehmen also Hinweise und Verbesserungsvorschläge auf. So bleibt der Text beweglich. Ein wunderbarer Prozess.

Wie fallen die Reaktionen aus und wer kauft das Heft?

Wurm: Ich habe zum ersten Mal etwas herausgebracht, was von den Medien durchweg positiv bewertet wird – als ob alle darauf gewartet hätten, dass irgendjemand das Grundgesetz in dieser zugänglichen Form herausbringt. Am ersten Verkaufstag erhielt ich zwei Anrufe. Eine Jurastudentin aus Münster sagte mir, sie sei mit einer Gruppe von Kommilitonen jeden Kiosk abgefahren und sie hätten alle Hefte gekauft, die da lagen. Unmittelbar danach rief eine 82-jährige Oma aus Berlin an. Sie habe acht Enkelkinder und sei am Morgen losgezogen, um am Bahnhofkiosk acht Exemplare des Grundgesetzes zu kaufen, um sie den Enkeln zu Weihnachten zu schenken. Das sei doch eine schöne Erinnerung an sie, wenn sie mal nicht mehr da sei. Da habe ich gedacht: eine Jurastudentin, eine Oma und durchweg positive Rezensionen – am Ende des Tages heißt die Zielgruppe: Alle!

Was sagt der große Erfolg über den Zustand der Republik?

Wurm: Man könnte jetzt sagen, der sei schlimm. Ich würde das aber lieber umdrehen: Mich stimmt es froh, dass die Menschen sich plötzlich für einen 70 Jahre alten, vermeintlich sperrigen Text interessieren und eine richtig gute Diskussion darüber entsteht. Es scheint, als hätten die Leute Lust, sich für die spannende politische Zeit, in der wir leben, Rüstzeug anzueignen und das nötige Basiswissen zu lernen. Verkaufsstellen, die das Magazin am Anfang gar nicht angenommen haben, rufen jetzt an und fragen, ob sie es nicht doch ins Sortiment aufnehmen können. Ich sehe, dass das Magazin plötzlich an den Bahnhöfen in den Schaufenstern landet, ohne dass ich für diese Sonderplatzierung einen Euro dazuzahlen muss. Da entsteht im Augenblick eine richtige Welle. Deswegen werden Mitte Januar weitere 60 000 Exemplare druckfrisch in den Markt gehen. Im zweiten Schritt wird es dann auch um vergünstigte Klassensätze gehen oder um kostenlose Lieferungen an soziale Einrichtungen.

Haben Sie das Gefühl, dass das Grundgesetz gestärkt werden muss?

Wurm: Das wäre vermessen, wenn ich das sagen würde. Aber es ist sicher nicht schlecht, wenn ich und viele andere dabei helfen, es zu stärken.

Haben Sie eine Lieblingsstelle im Grundgesetz gefunden?

Wurm: Ich bin Journalist. Und wenn man bedenkt, dass in der Zeit, in der wir uns mit dem Grundgesetz beschäftigt haben, zum Beispiel in der Türkei Kollegen im Knast saßen, die die freie Presse vertreten haben, freue ich mich natürlich extrem über den Artikel 5, der festschreibt, dass die Pressefreiheit in unserem Land gewährleistet ist und eine Zensur nicht stattfindet. Dafür kann man nur jeden Tag dankbar sein. Ansonsten geht wahrscheinlich in der Schönheit des Satzes nichts über Artikel 1. Unter dem Einfluss des soeben erst beendeten Zweiten Weltkriegs auf die Idee zu kommen, auf einem weißen Blatt Papier mit dem Satz „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ zu starten, ist nach wie vor beeindruckend und großartig.

Hatten Sie zwischenzeitlich auch die Idee, den Gesetzestext journalistisch zu begleiten?

Wurm: Nein, die Grundidee war immer, dass wir nur den reinen Text nehmen. Erst als wir fertig waren, haben wir gemerkt, wir brauchen auch noch eine spannende Optik. Zunächst haben wir aktuelle Fotos ausprobiert, dann überlegt, ob Künstler die einzelnen Kapitel gestalten sollen. Es war dann wieder ein Zufall, dass ich im Fernsehen auf den Astronauten Alexander Gerst gestoßen und ihm danach auf allen Social-Media-Kanälen gefolgt bin. Und bei den Aufnahmen, die er dort aus dem Weltall auf die Erde sendete, habe ich sofort gedacht: Das ist es! Das ist die Metaebene, die wir brauchen: 81 Millionen Deutsche müssten mal von oben auf unser Land mitten in Europa schauen, friedlich und vereint, so wie es immer in diesem Grundgesetz geplant war. Die Europäische Weltraumorganisation hat uns die Bilder dann auf Anfrage kostenlos zur Verfügung gestellt.

Und warum keine Kommentare?

Wurm: Das hätte ich mir nicht zugetraut. Ich bin kein Jurist. Schon als ich anfing, ein Editorial zu schreiben, kam ich mir mit jedem Satz alberner vor. Was danach kommt, ist so groß und wertig, dass wir am Ende auch darauf verzichtet haben.

Das Grundgesetz zählt einerseits zu den am häufigsten veränderten Verfassungen, andererseits sind die Grundrechte als unveränderbar festgeschrieben. Müssen wir uns also um Deutschland keine Sorgen machen?

Wurm: Wir müssen uns immer um unser Land und unsere Gesellschaft sorgen. Papier ist geduldig. Wir müssen die Werte, die im Grundgesetz verschriftlicht sind, auch leben und verteidigen. Aber dafür müssen wir sie erst einmal kennen.

Wie kann verhindert werden, dass Sie mit Ihrem Projekt nur diejenigen erreichen, die das ohnehin schon so sehen?

Wurm: Ich bin kein Freund davon, Zielgruppen vorauszuahnen. Warten wir doch mal ab, wie sehr sich das Magazin in alle gesellschaftlichen Schichten hineingräbt. Besonders auf Social Media wird schon fleißig diskutiert. Das Magazin stößt ganz neue Debatten an. Ich glaube, auch diejenigen, die das Grundgesetz sonst eher skeptisch betrachten, fühlen sich durch diese neue Aufmachung eingeladen, ihre Skepsis zumindest mal zu überprüfen.

Verbinden Sie eine besondere Hoffnung mit dem bevorstehenden 70. Geburtstag des Grundgesetzes am 23. Mai?

Wurm: Wenn, dann nur die, dass wir bis dahin einige Male nachgedruckt haben (lacht). Das wäre super.

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