Buchveröffentlichung Psychiatrie-Professor Hell: „Die extremen Narzissten in der Politik sind eine Gefährdung der Welt“

Düsseldorf · Der Psychiater Daniel Hell über den Wert der Scham, eine wachsende Schamlosigkeit und die Grenzen der Selbstoptimierung.

 „Scham hält eine Gemeinschaft zusammen und hat eine zwischenmenschliche Funktion“: Der Schweizer Psychiater und Psychotherapeut Daniel Hell (75) hat ein Buch über die Scham geschrieben.

„Scham hält eine Gemeinschaft zusammen und hat eine zwischenmenschliche Funktion“: Der Schweizer Psychiater und Psychotherapeut Daniel Hell (75) hat ein Buch über die Scham geschrieben.

Foto: Hell

„Daniel Hell ist wie die Fassade des Burghölzli: protestantisch schlicht, auch wenn er etwas darstellt.“ So beschrieb ein Porträt der Fachzeitschrift „Psychologie heute“ den Psychiatrie-Professor im Jahr 2007. Damals war der heute 75-Jährige noch ärztlicher Direktor der traditionsreichen und über die Schweiz hinaus renommierten Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich („Burghölzi“). Wer über Hell nachliest, stößt immer wieder auf zwei Beschreibungen: reformwillig und stark patientenorientiert. Jetzt hat der Psy­chiater und Psychotherapeut ein Buch über die Scham geschrieben. Ein Gespräch über ein quälendes Gefühl, das dennoch seinen Wert hat.

Herr Professor Hell, wann haben Sie sich das letzte Mal geschämt?

Daniel Hell: (lacht) Ich schäme mich manchmal für das Verhalten Schweizer Politiker, da ich mich nun doch etwas mit der Schweiz identifiziere. Beispielsweise, wenn man hier mit sehr hilflosen Menschen hart umgeht.

Haben Sie sich über dieses Gefühl der Scham gefreut?

Hell: Natürlich nicht. Scham ist vielleicht das unangenehmste, brennendstes Gefühl überhaupt, das wir kennen. Es wird ja auch als negative Emotion beschrieben. Scham ist ein Sensor, der uns alarmiert. Wenn wir beispielsweise in eine Identitätskrise geraten, dann macht uns die Scham sehr heftig darauf aufmerksam. Sie kann uns aber nur aufschrecken, wenn und weil sie höchst unangenehm ist.

Warum ist sie es dann wert, gelobt zu werden?

Hell: Die Scham alarmiert, schützt aber auch unser Selbst. Sie baut sogenannte Schamgrenzen auf, um andere nicht zu verletzen, aber auch, um uns selbst zu schützen, wenn unsere Selbstachtung bedroht ist. Wir grenzen uns dann schamvoll ab und verbergen uns.

Aber was ist mit dem alten Satz „Du solltest dich schämen“? Viele Menschen haben es als Befreiung erlebt, diese Art von Scham nicht mehr zu empfinden.

Hell: Ich bin selbst ein bewegter Student in den 60er Jahren gewesen und verstehe schon, dass es eine Befreiungsbewegung gegen Grenzen, Werte und Normen geben musste, die zum Teil belastend und problematisch waren. Aber wenn wir die Scham nur abwehren, verlieren wir einen Sensor, der uns auf die Gefahren unseres Selbst hinweist. Scham tritt ja erst auf, wenn ein Mensch ab dem zweiten Lebensjahr Selbstbewusstsein entwickelt hat und sich selbst bewerten kann.

Hat dann Scham auch etwas mit einem schwachen Selbstbewusstsein zu tun, weil wir das Gefühl haben, den eigenen oder fremden Ansprüchen nicht zu genügen?

Hell: Unbedingt. Aber wir brauchen Selbstachtung. Nur wenn ein Mensch alles verloren gibt, auch sich selbst, wird er sich kaum mehr schämen.

Warum kann unser Zusammenleben von Scham profitieren?

Hell: Weil Scham auch ein Sozial- und Taktgefühl ist. Wenn wir unsere Scham verlieren, verlieren wir den Takt und das Gespür im Umgang mit den anderen. Wir laufen dann Gefahr, uns nicht mehr selbst zu überprüfen und zu hinterfragen, sondern gleichsam unverschämt oder schamlos andere zu attackieren. Scham hält eine Gemeinschaft zusammen und hat eine zwischenmenschliche Funktion.

Und wie wichtig ist Scham für mich persönlich?

Hell: Wenn wir uns beispielsweise schämen, weil wir feige waren oder gelogen haben, verhilft die Scham dazu, dass wir uns anstrengen, mutiger zu werden oder nicht mehr zu lügen. Sie ist wichtig für die Selbstentwicklung.

Ist die Schamlosigkeit aus Sicht eines Psychiaters darum krankhafter als die Scham?

Hell: Ich glaube schon. Wir haben uns auf die Scham eingeschossen und sie beschämt. Mir geht es in dem Buch darum zu zeigen: Es gibt eine ganz andere, wichtige Seite der Scham. In Psychotherapien zeigen Patienten oft Scham und Peinlichkeit, bevor sie etwas Wichtiges benennen. Sie schrecken dann erst einen Moment zurück und zögern, ob sie das offenbaren sollen. Es kostet sie Überwindung, diese Schamgrenze zu überschreiten. Psychotherapie verläuft aber gerade entlang solcher Schamgefühle, die Nähe und Distanz regulieren. Auf der anderen Seite gibt es Störungen, bei denen Menschen nicht mehr zur Scham fähig sind. Ganz charakteristisch ist das bei Demenzkranken, die nicht mehr selbstbewusst reflektieren und sich dann auch nicht mehr schämen können.

Sie grenzen in Ihrem Buch Kränkung und Scham voneinander ab. Wo liegt der Unterschied?

Hell: Wer sich schämt, der ist mit sich selbst kritisch, erkennt sein eigenes Problem und sucht sich zu verändern. Wer gekränkt ist, fühlt sich als Opfer anderer und hat eher Rachefantasien. Gerade heute schafft ein gewisser Schamverlust zunehmend Probleme. Er kann dazu führen, dass Menschen häufiger narzisstisch gekränkt reagieren und damit Gefahr laufen, andere wütend zu attackieren und die Schamgrenzen nicht mehr einzuhalten.

Was passiert in einer Gesellschaft, in der Kränkungen und Narzissmus dominieren?

Hell: Ich nenne das, was daraus folgt, Beschämungskultur. Man könnte auch Kränkungskultur sagen. Es ist heute eine Tendenz zu beobachten, andere mehr als früher zu beschämen. Das zeigt sich vor allem in der Politik, aber auch in der Wirtschaft und selbst im Wissenschaftsbetrieb gibt es Anzeichen dafür.

Leben wir schon in einer schamlosen Gesellschaft?

Hell: Nein, wir können die Scham zwar verdrängen, jedoch nicht einfach abschaffen. Sie ist menschlich. Aberwir gehen zu wenig konstruktiv mit ihr um. Und mit dem Internet haben wir die Möglichkeit bekommen, Schamgrenzen leichter auszuschalten und uns gegenseitig gesichtslos zu beschämen.

Also wird die Beschämung durch die Digitalisierung und die digitalen Netzwerke verstärkt?

Hell: Sie wird erleichtert, weil sie anonym geschehen kann. Wenn ich in ein Gesicht schaue, fühle ich eine Hemmung, dann werden noch eher Scham und Taktgefühl ausgelöst. Aber ohne diese Hemmung läuft die Gesellschaft Gefahr, dass Menschen sich gegenseitig immer stärker kränken.

Was bedeutet es, dass die Schamlosigkeit politikfähig geworden ist?

Hill: Ich kann dem nichts abgewinnen. Ich schätze Politiker, die glaubhaft und aufrichtig sind und bei denen man spürt, dass sie auch selbstkritisch sein können, also der Narzissmus nicht überwiegt. Die extremen Narzissten in der Politik sind eine Gefährdung der Welt.

Scham hat auch viel mit dem Körper zu tun. Es gibt heute eine oft hemmungslose Körperlichkeit und Menschen sprechen davon, ihren Körper zu definieren, wenn sie sein Erscheinungsbild trainieren. Ein Gewinn?

Hill: Es kann ein Hinweis darauf sein, dass der Körper das Einzige ist, dessen wir uns noch sicher zu sein glauben und was uns zu Identität verhilft in einer Zeit der Verunsicherung. Die Gefahr des Körperkultes liegt aber wohl an anderer Stelle: Wir lassen uns von Wertvorstellungen über Schönheit und Jugend indoktrinieren. Heute schämen sich Menschen oft schon, wenn die Haare ausfallen oder sich Altersflecken auf der Haut zeigen. Man schämt sich zwar weniger der Nacktheit, aber viel mehr als früher wegen ästhetischer Mängel und angeblicher Hässlichkeit. Eine ganze Industrie lebt davon, uns von dieser Schmach zu heilen, indem sie uns ihre Produkte verkauft, um uns zu optimieren.

Was hat Burn-out mit Scham zu tun?

Heil: Meist heißt es, wer an einem Burn-out leide, zeige, dass er etwas geleistet hat. Aber Menschen mit Burn-out schämen sich oft, dass sie, was ihnen wichtig ist, nicht mehr leisten können.

Geraten wir also mit unserem Drang zur Selbstoptimierung an ungesunde Grenzen?

Hill: Als Psychiater sehe ich jedenfalls viele Menschen, die sich mit ihrer Selbstoptimierung so überfordern, dass sie nicht mehr sie selber sein können. Der Gradmesser ihrer Selbstachtung ist nur noch ihre Leistungsfähigkeit. Und wenn diese Leistungsfähigkeit einbricht, bricht auch ihre Selbstachtung ein. Diese Menschen erleben dann über die Erschöpfungszustände hinaus oft auch Depressionen.

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