Hat es die Stunde Null wirklich gegeben?

Das Jahr 1945 markierte zwar einen Wendepunkt. Doch ein kompletter Bruch mit der Vergangenheit war es nicht.

Hat es die Stunde Null wirklich gegeben?
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Düsseldorf. 1945 — die Stunde Null. Stunde Null? Das sollte doch soviel heißen wie: Ein neuer Tag, vergessen wir den alten, fangen wir neu an. Und war es nicht eben so — 1945, bei Kriegsende? Weil die alten Strukturen durch den völligen Zusammenbruch beseitigt waren, brauchte man sich nicht mit einem gesellschaftlichen Umbau zu befassen, konnte neu aufbauen. Militarismus weg, Nazis weg, verquere Ideologie eines herrschenden Volkes — alles weg.

So war es natürlich nicht, so konnte es nicht sein. 1945 kann nicht einfach als das Jahr angesehen werden, in dem die Deutschen Tabula Rasa machten. Die Tafel der Geschichte lässt sich nicht unbeschrieben machen. Es war ein Wendepunkt, eine Chance für einen Neuanfang, gewiss. Aber die Zeit vor der Stunde Null wirkte natürlich weiter. Es gab durchaus Brücken, es gab Kontinuitäten zwischen den Gesellschaften vor und nach Kriegsende. Die alten Werte waren längst nicht alle über Bord geworfen. Stunde Null, das hätte geheißen: Bruch mit alten Vorstellungen. Doch den gab es nicht.

Die Kontinuität und damit der Gegenbegriff zu einem Neuanfang im Sinne von Stunde Null zeigte sich schon in Gestalt des Führungspersonals von einst und dann von später. Gewiss, dawar der Austausch von Eliten, da war die sogenannte Entnazifizierung, um alte Kräfte von wichtigen Schaltstellen der Gesellschaft fernzuhalten. Doch immer wieder gab es Menschen in prominenten Ämtern, die auch schon vor 1945 eine Rolle gespielt hatten. Eine frühere Mitgliedschaft in der NSDAP stand einer Kanzlerschaft von Kurt Georg Kiesinger nicht im Wege. Auch ein Hans Filbinger mit entsprechender Vergangenheit war jahrelang Ministerpräsident von Baden Württemberg.

Der keineswegs komplette Neuanfang in einer Stunde Null zeigt sich auch darin, dass autoritäre Vorstellungen noch lange überlebten. Bis in die späten 1960er Jahre dauerte es, ehe überkommene Erziehungsmethoden gesellschaftlich infrage gestellt wurden. Wer in den 50er oder 60er Jahren zur Schule ging, konnte damit konfrontiert sein, dass eine Prügelstrafe durch den Lehrer auch von den eigenen Eltern als probates Erziehungsmittel angesehen wurde.

Dass der Bruch mit alten Vorstellungen für weite Teile der Gesellschaft nicht so leicht zu vollziehen war, kommt vor allem auch darin zum Ausdruck, dass es vier Jahrzehnte dauerte, bis das Kriegsende als Befreiung verstanden wurde. Diese Sichtweise zu verdrängen oder abzulehnen zeigte geradezu, wie sehr die Gesellschaft noch mit Gegebenheiten vor der „Stunde Null“ verbunden schien.

Dass eine Rede, gehalten im Jahr 1985, noch eine so große Debatte auszulösen vermochte, zeigt, wie sehr die Frage verdrängt oder ausgeklammert worden war. Als der im Januar verstorbene Bundespräsident Richard von Weizsäcker vor dem Bundestag die Ereignisse von 1945 als Befreiung bezeichnete, tastete er sich vorsichtig an die sensible Gemütslage der Menschen heran. Behutsam und verständnisvoll stimmte er die Zuhörer ein — beim Rückblick auf den 8. Mai 1945: „Viele waren einfach nur dafür dankbar, dass Bombennächte und Angst vorüber und sie mit dem Leben davongekommen waren. Andere empfanden Schmerz über die vollständige Niederlage des eigenen Vaterlandes. Verbittert standen Deutsche vor zerrissenen Illusionen, dankbar andere Deutsche vor dem geschenkten neuen Anfang.“

Sensibilität für die Gemütslage all jener, die andere für den Neubeginn in Ruinen verantwortlich machten. Und damit doch wieder Rechtfertigungen für das alte System zu finden suchten. Ihnen hielt von Weizsäcker jedoch entgegen: „Wir dürfen den 8. Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933 trennen.“ Der 8. Mai sei ein Tag der Befreiung gewesen, der uns alle befreit hat von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. „Es gab keine Stunde Null“, sagte der Bundespräsident in seiner Rede, deren Lektüre den Leser noch 30 Jahre später fesselt und anrührt. „Aber wir hatten die Chance zu einem Neubeginn. Wir haben sie genutzt, so gut wir konnten.“

In der Geschichte mag man Zäsuren setzen. Die Ereignisse von 1989 etwa stehen auch für eine solche Zäsur. Die Zeiger einer Uhr lassen sich auf Null stellen. Doch so, wie sich die Zeit dadurch nicht stoppen lässt, kann auch die Vergangenheit und die Verantwortlichkeit für diese Vergangenheit nicht weggewischt werden. In diesem Sinne kann es in der Geschichte niemals eine Stunde Null geben.

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