Interview Grünen-Bundesgeschäftsführer Kellner: „Da ist viel für uns zu gewinnen“

Düsseldorf · Michael Kellner, politischer Bundesgeschäftsführer der Grünen, über den Aufstieg seiner Partei, die deutsche Einheit und die Qualität des Klimapakets.

 „Natürlich ist man motivierter, wenn man Erfolg gestalten kann“: Grünen-Bundesgeschäftsführer Michael Kellner (2. v. r.) beim Redaktionsbesuch mit (v. l.) Oliver Koch, Sprecher der NRW-Grünen, sowie den Redakteuren Olaf Kupfer und Ekkehard Rüger.

„Natürlich ist man motivierter, wenn man Erfolg gestalten kann“: Grünen-Bundesgeschäftsführer Michael Kellner (2. v. r.) beim Redaktionsbesuch mit (v. l.) Oliver Koch, Sprecher der NRW-Grünen, sowie den Redakteuren Olaf Kupfer und Ekkehard Rüger.

Foto: Zanin, Melanie (MZ)

Michael Kellner ist in NRW unterwegs. Bei den Grünen im Rhein-Kreis Neuss und in Leverkusen wirbt der politische Bundesgeschäftsführer für das neue Grundsatzprogramm, das Ende kommenden Jahres verabschiedet werden soll. Dazwischen ein Gespräch über die Partei der Stunde, die vor allem eines nicht will: wieder abstürzen.

Herr Kellner, wie sehr hat Sie der Aussetzer von Robert Habeck bei der Pendlerpauschale geärgert?

Michael Kellner: Am meisten hat das Robert selber geärgert. Das trifft uns alle mal, dass wir einen Aussetzer haben oder einen Fehler machen. Und ich fand, er ist sehr souverän damit umgegangen und hat das auch eingeräumt. Es ist eine Stärke, da nicht drumherum zu reden.

Ist der Shitstorm danach ein Anzeichen dafür, dass viele die Grünen nach ihrem Höhenflug auch wieder stürzen sehen wollen?

Kellner: Unsere politische Konkurrenz guckt sicher nicht mit Wohlgefallen auf unsere Erfolge bei Wahlen oder in Umfragen. Es wurde von allen Seiten versucht, uns dafür hochzunehmen. Aber die Menschen sind klug genug zu merken, dass alle mal Fehler machen. Der Maßstab ist, was politisch von den Parteien zu erwarten ist. Und da freue ich mich, dass die Beurteilung der Grünen momentan deutlich positiver ist als zu vielen anderen Zeitpunkten der Parteigeschichte.

Die Wahlergebnisse der Grünen in Sachsen und Brandenburg waren gut, aber nicht so überragend, wie man nach den Umfragen hätte denken können. Was erwarten Sie für Thüringen am 27. Oktober?

Kellner: Die beiden Wahlen waren für uns sehr gute Ergebnisse, auch wenn wir nach den Umfragen zwischendurch noch besser gestanden hatten. Am Ende wollten die Brandenburger und die Sachsen nicht, dass eine rechtsextreme Partei die stärkste Partei wird. Für uns sind es die historisch besten Ergebnisse und wir sind voraussichtlich in beiden Landesregierungen vertreten. In Thüringen haben wir eine erfolgreiche rot-rot-grüne Landesregierung und ich gehe davon aus, dass wir gestärkt aus dieser Wahl hervorgehen und diese Regierung hoffentlich fortsetzen können.

Hilft es, dass man Björn Höcke jetzt einen Faschisten nennen darf?

Kellner: Ich weiß nicht, ob es hilft, aber es ist die Wahrheit.

Sie sind in Gera geboren und waren bei der Wende zwölf Jahre alt. Was bedeutet Ihnen der Tag der Einheit?

Kellner: Der 9. November ist für mich der eigentlich entscheidende Tag und er hat mir eine große Freiheit gebracht. Heute bin ich mit einer Bonnerin verheiratet. Ein Teil meiner Familie lebte in Westdeutschland und ich habe als Kind nicht verstanden, warum ich da nicht hinfahren konnte. Meine ältere Schwester durfte als Volleyball-Nationalspielerin gar keine Westkontakte haben.

Wie hat die Wende Ihre Familie verändert?

Kellner: Für die Generation meiner Eltern waren das wahnsinnige Umbrüche. Über Nacht war alles anders. Ich fand das befreiend und besorgniserregend zugleich. Aber meine Mutter war zwischendurch arbeitslos, mein Vater hat seine Stellung verloren.

Haben Sie deswegen vielleicht mehr Verständnis für die Stimmen der Enttäuschten, die jetzt AfD wählen?

Kellner: Es gibt keinen Grund, aus einer Enttäuschung heraus einen Rechtsradikalen zu wählen. Aber ich verstehe, dass lange gar nicht gesehen wurde, was für eine Transformationserfahrung die 90er Jahre waren. Das ist viel zu wenig anerkannt und verstanden worden. Ich will die DDR nicht beschönigen, doch dass Frauen gearbeitet haben, auch   in Führungspositionen, war dort eine Selbstverständlichkeit. Natürlich musste nach der Wende auch in der Justiz und den Verwaltungen alles neu aufgebaut werden. Aber die Menschen sehen auch 30 Jahre danach: Das sind auch heute noch westdeutsche Eliten. Da gibt es ein großes Repräsentanzproblem.

Kann man das noch korrigieren?

Kellner: An vielen Stellen wie in  der Justiz und in den Hochschulen steht jetzt ein Generationswechsel an. Und ich finde richtig, dabei zu schauen, dass Landeskinder die Chance haben aufzusteigen. Aber dafür müssen auch die Ausbildungskapazitäten erhöht werden. Das Thema der gleichwertigen Lebensverhältnisse ist übrigens eins, dem wir uns auch in unserem neuen Grundsatzprogramm sehr verschreiben. Das soll eine Gemeinschaftsaufgabe von Bund und Ländern werden, nicht an Himmelsrichtungen orientiert, sondern an Strukturdaten in Ost wie West.

Und die Verabschiedung erfolgt rechtzeitig vor der Bundestagswahl.

Kellner: Genau, Ende 2020, wenn wir Grüne 40 Jahre alt werden, wird das Grundsatzprogramm beschlossen. Sollte die große Koalition vorher scheitern, muss ich einen anderen Plan entwickeln (lacht).

Ist es nötig, zum vierten Mal in der Geschichte der Grünen ein Grundsatzprogramm zu entwickeln?

Kellner: Das letzte ist von 2002. Dort finden Sie etwas zu Telearbeitsplätzen, aber nichts zur Digitalisierung. 2002 haben wir die Klimakrise ins Zentrum gestellt mit dem Ziel, sie zu vermeiden. Jetzt befinden wir uns inmitten der Krise. Dazu kommt die internationale Lage, die sich damals niemand hat vorstellen können.

Sind die Grünen wegen des Klimathemas auf dem Weg zur neuen Volkspartei?

Kellner: Natürlich ist man motivierter, wenn man Erfolg gestalten kann. Aber wir stecken noch in den Strukturen einer Neun-Prozent-Partei. Die Parteienfinanzierung funktioniert nach Wahlergebnissen und nicht nach Umfragen. Und wir haben zwar inzwischen mehr als 90 000 Mitglieder, aber SPD und CDU haben jeder 400 000. Das sind schon andere Größenverhältnisse. Die Aufgabe ist, dass wir flinker sind.  Im Übrigen wollen wir auch gar keine Volkspartei klassischen Typs werden. Diese Zeit ist vorbei. Wir verstehen uns als Bündnispartei, wo viele eingeladen sind, die die Klimakrise bewältigen und für Weltoffenheit streiten wollen. Die Parteienlandschaft ist so in Bewegung, dass da viel für uns zu gewinnen ist.

Wie sind die Grünen denn finanziell aufgestellt?

Kellner: Durch die Wahlerfolge steigen die finanziellen Möglichkeiten, aber die Ansprüche an uns steigen noch viel schneller. Die Europawahl haben wir mit einem Drittel bis Viertel des Budgets von Union und SPD bestritten. Ich bin optimistisch, dass bei der nächsten Bundestagswahl das Verhältnis 1:2 ist.

In anderen Parteien hört man, die Grünen werden sich schon selbst entzaubern, wenn sie in der Verantwortung stehen. Beschäftigt Sie das?

Kellner: Angesichts der dürftigen Bilanz der großen Koalition habe ich keine Angst, dass wir da keinen Unterschied machen werden. Aber es ist sicher Aufgabe der jetzigen grünen Generation zu beweisen, dass sie diese Republik in der Regierung so verändern kann, wie die Partei das schon einmal mit Rot-Grün getan hat.

Was finden Sie an dem Klimapaket der Bundesregierung richtig gut?

Kellner: Wenig. Dass es eine jährliche Messung gibt zur Überprüfung der Maßnahmen. Aber das ist ab 2020 EU-Recht. Was dabei fehlt, sind die Konsequenzen, wenn die Ziele nicht eingehalten werden. Und gut ist auch die Aufhebung des Solardeckels, der eine Fördergrenze bedeutet.

Sorgen Sie sich manchmal um die gesellschaftlichen Spannungen, die bei der Umsetzung von Klimaschutzmaßnahmen entstehen könnten?

Kellner: Deswegen finde ich ja dieses Klimapaket so schlecht. Es ist ja nicht so, dass die Grünen einen Konsens definiert hätten. Sondern diese Bundesregierung hat sich in Paris verpflichtet, die Klimaziele 2030 zu erreichen. Und je mehr Zeit die große Koalition mit Nichtstun vergeudet, desto schwieriger ist die Umsteuerung und desto gravierender müssen die Maßnahmen dann später ausfallen.

Fanden Sie Greta Thunbergs Rede beim Klimagipfel großartig, grenzwertig oder nervig?

Kellner: Sie redet normalerweise unglaublich klar und präzise. Dass aber auch eine 16-Jährige Emotionen zeigt, dafür habe ich volles  Verständnis.

Was verdanken die Grünen ihr?

Kellner: Mit dem Dürresommer 2018 kam die Klimakrise breit im Bewusstsein an. Mit  Fridays for Future  ist daraus innerhalb eines Jahres eine globale Bewegung entstanden. Uns ist es in den Wahlkämpfen zuvor nicht gelungen, das Thema so hoch auf die Agenda zu setzen. Das ist erst durch diese Massenbewegung möglich geworden.

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