„Vertrauenszeit komplett gestrichen“ Einigung bei Bürgergeld in Deutschland - Was der Kompromiss bringt

Plötzlich geht alles ganz schnell. Nach tagelangen Verhandlungen hinter verschlossenen Türen steht das Hartz-IV-Update. Alle scheinen zufrieden - auch wenn offiziell erst noch verhandelt werden muss.

 Union und Ampel-Regierung haben sich auf einen Kompromiss beim Bürgergeld geeinigt.

Union und Ampel-Regierung haben sich auf einen Kompromiss beim Bürgergeld geeinigt.

Foto: dpa/Marijan Murat

Friedrich Merz drückt den Rücken gerade. „Dieses Gesetz wird weiter den Namen Bürgergeldgesetz tragen“, sagt der CDU-Chef am Dienstag vor dem Fraktionssaal der Union im Bundestag. „Aber es wird nicht mehr dem Inhalt nach das Bürgergeld sein, das die Koalition ursprünglich geplant hat.“ Hat sich der Oppositionsführer also mit seiner harten Haltung gegenüber dem Prestigeprojekt der Ampel durchgesetzt?

Nicht weniger zufrieden als Merz zeigt sich der SPD-Kanzler. Etwas verklausuliert meint Olaf Scholz wenige hundert Meter entfernt im noblem Berliner Hotel Adlon kurz vorher, ein Scheitern der „ganz großen Sozialreform“ habe nie zur Debatte gestanden. „Wir haben das Thema ja extra auf einer Tonlage gespielt, bei der immer klar war, dass es eine Einigung zwischen Regierung und Opposition in dieser Frage geben wird.“ Bereits im Vorfeld war im Regierungsviertel zu hören, Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) habe das Aufbegehren von CDU/CSU teilweise einberechnet gehabt - und Verhandlungspuffer eingebaut. Was bringt der Kompromiss zum Nachfolger von Hartz IV für die rund 5,3 Millionen Menschen mit Arbeitslosengeld II oder Sozialgeld?

Höhere Leistungen:

Mit der Einigung noch vor Ablauf des Monats können zum 1. Januar die geplanten höheren Leistungen fließen - sonst wäre dies laut Bundesagentur für Arbeit zeitlich zu eng geworden. Vorgesehen ist die mit Abstand höchste Anhebung der Regelsätze seit dem Hartz-Start vor mehr als 17 Jahren. Alleinstehenden sollen zum 1. Januar 502 statt 449 Euro bekommen. Die Erhöhung ist nach Ansicht von Grünen-Fraktionschefin Britta Haßelmann „gerade in dieser krisenhaften Zeit“ sehr wichtig: „Sie wird kommen.“

Sanktionen:

Die Betroffenen sollten ursprünglich in den ersten sechs Monaten des Leistungsbezugs bestimmte Kürzungen der Bezüge nicht mehr fürchten müssen - ein Hauptkritikpunkt der Union. Die Akzente sahen CDU/CSU sie zu sehr vom Fordern zum reinen Fördern verschoben. Zwar wollte die Ampel Sanktionen wegen mehrfachem Nichtmelden beim Jobcenter von bis zu 10 Prozent auch in der anfänglichen „Vertrauenszeit“ ermöglichen - aber nicht, wenn jemand mit dem Jobcenter verabredete Maßnahmeteilnahmen oder Bewerbungen auf Vermittlungsvorschläge unterlässt. Leistungsminderungen in jährlich rund 63 000 Fällen sollten so entbehrlich werden.

„Diese Vertrauenszeit wird komplett gestrichen“, verkündet Merz. Sanktionen etwa bei absprachewidrig ausbleibenden Bewerbungen auf Jobangebote sollen von Anfang an möglich sein. Geplant ist dies gestaffelt; betragen sollen die Kürzungen beim ersten Mal 10, beim zweiten 20 und dann 30 Prozent der Leistung. Mehr ist laut einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2019 auch nicht zulässig.

Schonvermögen:

Auch das zählte aus Unionssicht zu den „schweren Systemfehlern im Hartz-IV-Update“ (CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt). In einer „Karenzzeit“ von zwei Jahren sollten laut Ursprungsentwurf von Minister Heil angemessene Kosten für Miete und Heizung übernommen werden. Erspartes sollte nicht aufgebraucht werden müssen, wenn es sich nicht um erhebliches Vermögen handelt. Als erheblich sollten 60 000 Euro gelten und 30 000 Euro für weitere Personen in der sogenannten Bedarfsgemeinschaft. Nun soll in einer nur noch zwölfmonatigen Karenzzeit 40 000 Euro geschont werden - bei jedem und jeder weiteren Person 15 000 Euro. Bestimmte größere Wohnflächen sind anzuerkennen, wenn alles andere „eine besondere Härte“ bedeuten würde.

Zuverdienst:

„Zu viele Menschen, die ergänzendes Hartz IV bekommen, sogenannte Aufstocker, stecken im Minijob fest“, sagt FDP-Vizechef Johannes Vogel. Für die Liberalen sind vor allem die geplanten höheren Grenzen wichtig, bis zu denen ein Zuverdienst möglich ist. So sollen mehr Menschen „Schritt für Schritt“ aus dem Minijob herauswachsen. Und junge Menschen aus einer Familie im Leistungsbezug sollen künftig 600 statt 200 Euro behalten können.

Kein „Drehtüreffekt“ mehr:

Die Chefverhandlerinnen von Rot und Grün, die parlamentarische SPD-Geschäftsführerin Katja Mast und Grünen-Fraktionschefin Haßelmann, betonen vor allem Dinge, an denen die Union gar nichts aussetze: Ein Kooperationsplan zwischen persönlichem Ansprechpartner oder Ansprechpartnerin im Jobcenter und Arbeitslosen soll viel eingehender festlegen, wie den Menschen wieder auf eigene Beine geholfen werden kann. Bei Nichtbefolgung von Verabredungen sollen weniger rechtliche Folgen drohen - allerdings sind nach dem Eingreifen der Union mehr Rechtsfolgenbelehrungen geplant. Abgeschafft werden soll aber der Vorrang auf rasche Vermittlung in Arbeit - wodurch der vielbeklagte „Drehtüreffekt“ (Haßelmann) von Jobcenter zum Helferjob und zurück beendet werden soll.

Vermittlungsausschuss:

Nun soll der Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat den Kompromiss absegnen. Vorgesehen ist dabei eine im Vergleich zu früheren Vermittlungsverfahren kurze Sitzung am Mittwochabend. Formal war Heils - im Parlament mit Ampelmehrheit beschlossenes - Gesetz in der Länderkammer gescheitert. Der Bundestag soll dem Vermittlungsergebnis ohne Aussprache grünes Licht geben - und abschließend auch noch der Bundesrat an diesem Freitag. Praktisch niemand rechnet mehr mit einem Scheitern, auch wenn Merz sagt: „Der Vermittlungsausschuss hat hier volle Souveränität und Entscheidungsfreiheit.“

(dpa)
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