Nur 66,35 Prozent Zustimmung Ein Holpriger Start für Andrea Nahles

Mit dem zweitschlechtesten Ergebnis der Nachkriegszeit hat die SPD erstmals in ihrer 155-jährigen Geschichte eine Vorsitzende gewählt. Nur Oskar Lafontaine schnitt noch schlechter ab.

Nur 66,35 Prozent Zustimmung: Ein Holpriger Start für Andrea Nahles
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Wiesbaden. Die begehrtesten Medien-Gesprächspartner vor der Halle tragen ein Plakat mit der Aufschrift „Simone wählen“ oder sagen unverhofft in die Mikrofone und Kameras, dass sie für die Flensburger Oberbürgermeisterin stimmen werden. So wie Martin Sieber, Delegierter aus dem niedersächsischen SPD-Unterbezirk Hildesheim. Sieber, Gewerkschafter, engagiert in der Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen (AfA), ist genau die Sorte Sozialdemokrat, die Andrea Nahles eigentlich nicht von der Fahne gehen dürfte. Es aber eben doch tut.

Es ist der fünfte Parteitag der SPD in 13 Monaten. Die Riege der Ex-Vorsitzenden in der ersten Reihe wird immer länger. In Wiesbaden sind es Rudolf Scharping, Kurt Beck, Sigmar Gabriel und Martin Schulz; irgendwo ist auch Franz Müntefering. Zum ersten Mal seit 1995, als Oskar Lafontaine (mit Hilfe der damaligen Juso-Vorsitzenden Andrea Nahles) Rudolf Scharping stürzte, gibt es auf einem Parteitag zwei Bewerbungen um den Parteivorsitz. Weil es bei der SPD gar nicht vorgesehen ist, dass sich zwei Kandidatinnen um den Vorsitz bewerben, gibt es dafür in den Parteistatuten nicht einmal ein Verfahren.

Manuela Schwesig stellt vor, was der Parteivorstand sich dazu ausgedacht hat: Die beiden Bewerberinnen reden jeweils 30 Minuten. Dann dürfen die Delegierten Fragen aufschreiben. Die Zettel landen in einer Box, für jede Kandidatin gibt es eine. Aus den beiden Boxen werden je fünf Fragen gezogen. Jede der beiden Bewerberinnen hat je sieben Minuten Zeit zur Beantwortung. Ein einzelner Berliner Delegierter beschwert sich, dass es keine allgemeine Aussprache gebe; Tombola kenne er vom Rummel, aber nicht von Parteitagen. Schwesig sagt, das Verfahren sei fair und transparent und mit beiden abgestimmt, so wird es dann auch gemacht; zumindest so ähnlich.

Eine mitreißende Rednerin ist Simone Lange nicht. In 15 Jahren habe die Partei ihr Ergebnis halbiert, im Wettbewerb mit anderen Parteien sei sie weit abgeschlagen. Es fehle an Teamspiel und Offenheit, es fehle an echter Erneuerung. „Lasst uns frei nach Willy Brandt mehr Demokratie endlich leben“, versucht Lange zu rufen, aber es klingt wie abgelesen. Selbst dann noch, als sie verkündet: „Ich kandiere, weil Demokratie nichts mit Alternativlosigkeit zu tun hat. Ich bin heute eure Alternative für eine echte Erneuerung der SPD.“ Lange plädiert für die Rückkehr zu mehr Staat, spricht von einem Teufelskreis der Entstaatlichung und immer wieder von Willy Brandt: „Sein Kniefall war auch unser Kniefall. Er ist uns Erinnerung und Auftrag zugleich.“

Das soll den Unterschied zu Nahles betonen, die nicht wegen Willy Brandt, sondern wegen ihres Realschullehrers in die SPD eingetreten ist (der heute allerdings nichts mehr mit ihr zu tun haben will). Nahles spricht in Wiesbaden entgegen der Verabredung doppelt so lange wie Lange, allerdings auch nicht nur doppelt so laut, sondern doppelt so gut. Es ist die beste Rede, die auf allen Parteitagen seit Anfang 2017 gehalten wurde. Nahles betont, wem sie („katholisch, Arbeiterkind, Mädchen, Land“) verdankt, dort in Wiesbaden stehen zu können: „Dass ich es heute tun kann, verdanke ich meinen Eltern, einem Bildungssystem, das Chancengleichheit hergestellt hat, und das verdanke ich der SPD.“

Allein nach diesem Bekenntnis ist der Applaus größer als während der gesamten Rede von Simone Lange. Andrea Nahles grüßt ihre Mutter im Publikum, fordert die Jusos auf, die Partei als den Ort zu begreifen, an dem man für seine Freiheit kämpfen kann, und sie verspricht den Frauen: „Heute wird die gläserne Decke in der SPD durchbrochen, und sie bleibt offen.“ Die künftige Vorsitzende nimmt alle in den Arm: „Die SPD“, sagt sie, „hat meinen Träumen und Hoffnungen eine Heimat gegeben.“ Im Wahlkampf sei der Fehler gewesen, dass man zwar das Ziel benannt haben, „aber wir haben nicht gesagt, wie wir es erreichen wollen.“

Sie fordert eine Sozialstaats-Reform, positioniert sich eindeutig zur inneren Sicherheit, auch den Heimat-Begriff will sie keinesfalls der CDU/CSU überlassen: „Heimat ist ein Ort, der nicht bewahrt werden muss, sondern der entsteht, wenn Menschen miteinander solidarisch sind.“ So ein Ort täte auch der SPD ganz gut, um sich zu erneuern.

Am Ende stimmen 414 von 624 Delegierten für sie. 38 enthalten sich, 172 Stimmen gehen an Simone Lange. Damit erhält Andrea Nahles lediglich 66,35 Prozent der Stimmen. Das ist das zweitschlechteste Wahlergebnis an der SPD-Spitze in der Nachkriegszeit; nur Oskar Lafontaine schnitt 1995 bei seinem Putsch gegen Rudolf Scharping mit 62,6 Prozent noch schlechter ab.

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