Erfolgreiche Gegenoffensive Ist das der Wendepunkt im Ukraine-Krieg?

Kiew · Im Ukraine-Krieg deutet sich ein Wendepunkt an. Kiews Armee macht in wenigen Tagen Gebietsverluste wett, die die russischen Angreifer innerhalb von fünf Monaten erbitterter Kämpfe erzielt haben. Der Rückzug wirft Fragen auf - auch bei Russlands Kriegsbefürwortern.

Ein zerstörter russischer Panzer ist in der Nähe von Charkiw in der Ukraine zu sehen.

Ein zerstörter russischer Panzer ist in der Nähe von Charkiw in der Ukraine zu sehen.

Am Ortsausgang von Isjum hängt sie schon, die gelb-blaue ukrainische Flagge, auch im Stadtzentrum von Kupjansk. Die beiden Kleinstädte sind wie das zuvor von ukrainischen Truppen eroberte Balaklija wichtige strategische Orte im Osten der Ukraine. Von hier aus wollte Russland seinen Vormarsch auf den Donbass vorantreiben. Jetzt hat Kremlchef Wladimir Putin andere Sorgen.

Kupjansk als Eisenbahnknoten mit Anschluss an das russische Bahnnetz diente zur Versorgung der Truppen. Von Isjum und Balaklija aus sollten die Angreifer die ukrainischen Verteidiger im Großraum Slowjansk – Kramatorsk, der letzten von Kiew gehaltenen Festung im Donbass, in die Zange nehmen.

Doch daraus wird nichts. Innerhalb weniger Tage haben Kiewer Truppen riesige Gebietsabschnitte zurückerobert. Der ukrainische Generalstab sprach am Sonntag von mehr als 3000 Quadratkilometern. Im Gebiet Charkiw kommt die Armee nicht nur in südlicher und östlicher Richtung voran, sondern auch nach Norden in Richtung Staatsgrenze. Im Laufe des Sonntags zogen sich die russischen Truppen aus weiteren Grenzorten zurück.

Der Einschätzung der US-amerikanischen Militärexperten vom Institute for Study of War nach übersteigen die ukrainischen Geländegewinne binnen weniger als einer Woche diejenigen der Russen seit April. „Die Befreiung von Isjum wäre der bedeutendste militärische Erfolg der Ukraine seit dem Sieg in der Schlacht um Kiew im März“, schrieben die Experten am Sonntag.

Der schnelle Vorstoß beweglicher ukrainischer Einheiten zwang die russischen Truppen im Gebiet Charkiw zu einem hastigen Rückzug gen Osten. Ein Verband von rund 10 000 russischen Soldaten musste sich hinter den Fluss Oskil zurückziehen. Der russische Generalstab, der am Samstag erstmals nach Beginn der Gegenoffensive überhaupt Stellung zu den Vorgängen nahm, sprach euphemistisch von einer „Umgruppierung“, um die Kräfte für den weiteren Vormarsch auf den Donbass zu bündeln. Doch zurückgelassene Panzer, Ausrüstung, Waffen und Munition sprechen nicht für einen planmäßigen Abzug.

Ein Wendepunkt im Krieg? Noch immer hält Russland gut ein Fünftel des Staatsgebiets besetzt, einschließlich der Halbinsel Krim. Doch zumindest die Stimmung hat sich gedreht. Für Kiew ist der Vormarsch auch aus Imagegründen wichtig, um weitere Waffenlieferungen aus dem Westen mit realen Ergebnissen rechtfertigen zu können.

„Die ukrainischen Soldaten haben Dutzende russischer Panzer erbeutet. Darunter modernste. Vielleicht brauchen wir gar keine Leopard-Panzer mehr?“, fragte der ukrainische Kriegsreporter Andrij Zaplijenko in der allgemeinen Euphorie augenzwinkernd. Und überwältigt von den Bildern und Berichten schrieb sein Kollege Roman Botschkala: „Das ist kein Science-Fiction. Das sind die Streitkräfte der Ukraine.“

Mit Häme wird auch ein alter Clip der Chefin des Staatssenders RT, Margarita Simonjan, präsentiert, die beim TV-Sender Rossija 1 ankündigte: „In einem heißen Krieg besiegen wir die Ukraine in zwei Tagen.“ Am Sonntag zählte man nun den 200. Kriegstag.

In Kiew pendelt die Stimmung zwischen Stolz und Staunen. Das hatten viele Ukrainer ihrer Armee nicht zugetraut. Sonntagsspaziergänger lassen sich vom trüben Wetter nicht abhalten, ausgelassen scherzen die Leute. Kaffeeverkäufer Danylo lobt die ukrainischen Soldaten. „Das sind Prachtkerle“, sagt er mit einem Lächeln. Die Entwicklungen haben bei ihm Hochstimmung ähnlich wie im Frühjahr nach dem Abzug der Russen bei Kiew ausgelöst. „Bis Ende des Jahres klärt sich die Lage“, hofft er und sieht bereits die Krim in greifbarer Nähe.

Der Ausgelassenheit in Kiew steht Trübsal, Verunsicherung und Wut in Russland und bei den Separatisten in Donezk gegenüber. Als ein möglicher neuer Angriffspunkt der Ukrainer gilt die Region um Wuhledar an der westlichen Front des Donezker Gebiets. „Es wird bald geschehen, der Feind ist beflügelt“, prognostiziert der dortige Separatistenkommandeur Alexander Chodakowski. Und stellt die Frage, was die russische Armee dem noch entgegensetzen kann: „Ich werde mit meinen drei Mörsern und den Munitionsresten in den Kampf gehen.“

Der Krieg ist damit noch lange nicht vorbei, warnen Experten. Das Angriffspotenzial Russlands ist weiterhin groß. Doch die Niederlage habe auch massive taktische Defizite der russischen Militärführung und die mangelnde Moral der russischen Kämpfer aufgezeigt.

Der Ärger über die militärische Führung ist gerade im ultrarechten Lager der Kriegsbefürworter gewaltig. Russische Blogger fordern Konsequenzen und Rücktritte. Immer häufiger fällt dabei der Name von Verteidigungsminister Sergej Schoigu, der für die schlechte Vorbereitung der Armee auf den Krieg verantwortlich gemacht wird.

Und auch die politische Führung in Moskau, die die Niederlage praktisch ignoriert hat, kommt unter Druck. „Gotteslästerlich und wahnsinnig hat heute der Salut in Moskau vor dem Hintergrund der ukrainischen Offensive in Charkiw ausgesehen“, kritisierte etwa ein Blog das große Feuerwerk zum Stadtgeburtstag Moskaus am Samstagabend. Das ausgiebige Feiern angesichts der eigenen Niederlage haben viele Russen als unpassend empfunden.

Symbolträchtig für die Pannenserie der russischen Führung ist eine weitere Episode. Unbeeindruckt vom Kampfgeschehen wurde Präsident Putin scherzend bei der Einweihung verschiedener Anlagen zu Moskaus Stadtgeburtstag im Staatsfernsehen gezeigt. Unter anderem setzte er selbst ein Riesenrad in Bewegung - das höchste in ganz Europa, hieß es. Einen Tag später musste die Anlage wegen eines technischen Schadens erst einmal außer Betrieb genommen werden. Es läuft gerade nicht für den Kremlchef.

(dpa)
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