Keine Partei will in Sofia regieren - Aktivisten mit Schattenkabinett

Sofia (dpa) - Bulgarien steuert auf Neuwahlen zu. Nach dem Rücktritt des bürgerlichen Kabinetts wegen Massenprotesten im Land sieht sich keine der großen Parteien Bulgariens in der Lage, eine Regierung für das krisenerschütterte EU-Land zu bilden.

Auch die Sozialisten verzichteten am Mittwoch erwartungsgemäß auf die Bildung einer neuen Regierung. Die Proteste gehen indes unvermindert weiter. Sozialisten-Chef Sergej Stanischew gab den Auftrag von Staatspräsident Rossen Plewneliew zur Regierungsbildung umgehend zurück. „Die Lage im Lande (...) erfordert vorgezogene Parlamentswahlen“, erklärte Stanischew. Die Sozialisten strebten ein „neues, soziales Bulgarien“ an, sagte der Leiter der zweitgrößten Fraktion.

Am Montag hatte bereits der zurückgetretene Regierungschef Boiko Borissow auf die Formierung eines neuen Kabinetts verzichtet. Seine Regierung war auf Druck von Massendemonstrationen gegen hohe Strompreise vor einer Woche gut vier Monate vor dem eigentlichen Ende des Mandats zurückgetreten. Auch die drittgrößte Partei der türkischen Minderheit DPS hat bereits erklärt, dass sie keine Regierung bilden möchte. Bis Mitte Mai soll es in dem EU-Land Neuwahlen geben. Zuvor muss das Parlament vorzeitig aufgelöst werden.

Mitten in der Regierungskrise begannen indes die Aktivisten gegen hohe Strompreise mit der Aufstellung eines Schattenkabinetts. „Wir bilden jetzt eine Schattenregierung, die Experteneinschätzungen generieren und Lösungen anbieten soll“, erklärte der Aktivist Angel Slawtschew dem Staatsradio in Sofia. Der IT-Spezialist gehört zu den jungen Aktivisten, die die Protestwelle in Bulgarien über das Internet koordinieren.

Das Parlament stoppte am Mittwoch den Bau eines neuen Atomkraftwerks zusammen mit Russland. Damit setzten die Volksvertreter dem umstrittenen Belene-Projekt ein Ende, nachdem ein Referendum darüber Ende Januar wegen mangelnder Bürgerbeteiligung ungültig war. Das Parlament stimmte außerdem für die Verlängerung der Lebensdauer der zwei 1000-Megawatt-Reaktoren im alten AKW Kosoduj sowie für den Bau eines weiteren Meilers an diesem Standort.

Um die sozialen Spannungen zu dämpfen, billigten die Volksvertreter schnell in erster sowie in zweiter Lesung Änderungen des Energiegesetzes. Diese würden niedrigere Strompreise ermöglichen.

Wegen der Massenproteste gegen hohe Strompreise begannen zugleich massive Kontrollen der Stromversorger. Es handelt sich dabei um CEZ und Energo-Pro aus Tschechien und EVN (Österreich). Besonders hart getroffen von den für sie untragbar hohen Strompreisen sind ältere Menschen, deren Stromrechnungen fast so hoch sind wie ihre ganze Monatsrente. Die Protestierer forderten immer wieder, dass der Staat die 2004 privatisierten Stromversorger wieder zurückkauft.

Die Demonstrationen sollen mit der neuen Forderung nach einem „Systemwechsel“ weitergehen. Für Sonntag ist in der Hauptstadt Sofia eine neue Großkundgebung angesagt.

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