Im Auge des Sturms Schwedens Sonderweg in der Corona-Krise

Stockholm · Im Gegensatz zu Deutschland geht Schweden mit deutlich mehr Freizügigkeit für seine Bürger gegen die Krise vor. Die Meinungen über diesen Weg gehen auseinander.

 Der schwedische Staatsepidemiologe Anders Tegnell ist in seiner Heimat auf allen Kanälen omnipräsent.

Der schwedische Staatsepidemiologe Anders Tegnell ist in seiner Heimat auf allen Kanälen omnipräsent.

Foto: dpa/---

Was der Virologe Christian Drosten für die Bundesrepublik ist, ist Anders Tegnell für die Schweden: Der oberste Epidemiologe in Stockholm ist derzeit der gefragteste Mann im Land, omnipräsent auf allen Kanälen. Die Meinungen über ihn und seine Empfehlungen gehen auseinander: Während die einen auf die spezielle Corona-Strategie ihrer Regierung und ihres momentan wichtigsten Experten vertrauen, wundern sich die anderen, warum Schweden eine ganz andere Linie fährt als seine Nachbarn und EU-Partner.

In der Tat geht Schweden in der Corona-Krise einen Sonderweg: Kindergärten und Grundschulen bis zur neunten Klasse sind anders als Gymnasien und Unis weiter offen. Das Gleiche gilt für Restaurants, Kneipen und Cafés, die ihre Gäste seit kurzem aber nur noch am Tisch bedienen dürfen. Die Skigebiete sind ebenfalls weiter geöffnet, die Staatsgrenzen für Nicht-Europäer dicht, nicht aber für Bürger der EU und der Europäischen Freihandelszone.

Damit ist Schweden im Grunde das letzte EU-Land ohne extrem scharfe Maßnahmen gegen Covid-19. Der Kontrast zu dem strikten Vorgehen der skandinavischen Nachbarn Dänemark und Norwegen und auch demjenigen in Deutschland könnte größer kaum sein. Man fragt sich: Geht das gut?

Überzeugt von der Strategie

Glaubt man dem Staatsepidemiologen Tegnell, dann wird die schwedische Strategie aufgehen. „Wir sind überzeugt davon, dass das hier der richtige Weg ist“, sagte er kurz vor dem Wochenende dem Sender SVT. Im schwedischen Gesundheitswesen baue man sehr auf Vertrauen, Freiwilligkeit und darauf, eigene Lösungen zu finden, sagte er.

Tegnell, die Regierung von Ministerpräsident Stefan Löfven und die Gesundheitsbehörden setzen weitgehend auf die Vernunft der Bevölkerung, auf Empfehlungen an Menschen über 70 zur Vermeidung enger Kontakte sowie auf das für die Schweden typische Vertrauen in die politischen Entscheider. Die Ziele im Kampf gegen das Coronavirus Sars-CoV-2 sind dabei dieselben wie anderswo: Die Virusausbreitung soll abgebremst werden, damit nicht zu viele Menschen gleichzeitig erkranken und die Gesundheitssysteme überfordert werden.

In der Regierungsstrategie findet sich aber noch ein Zusatz: Gegen Corona sollten „zur richtigen Zeit die richtigen Maßnahmen“ ergriffen werden, heißt es da. Am Freitag etwa verkündete Löfven, dass Versammlungen auf maximal 50 Teilnehmer begrenzt werden – bislang lag die Grenze bei der in Corona-Zeiten äußerst freizügigen Zahl von maximal 500 Teilnehmern.

Sorge in Stockholm

Bislang gibt es in Schweden knapp 3500 bestätigte Infektionsfälle. Mehr als 100 Menschen im Land sind bisher an Covid-19 gestorben, davon fast zwei Drittel in Stockholm. Dort nimmt die Zahl der Todesfälle seit Tagen zu. Als sie sich von Dienstag auf Mittwoch innerhalb von 24 Stunden von 19 auf 37 beinahe verdoppelt hatte, klang die Hauptstadtregion deutlich alarmierter als Tegnell. In Stockholm klang das ganz anders. „Vor fünf Tagen habe ich die Covid-19-Epidemie als einen Sturm bezeichnet“, sagte Stockholms Gesundheitsdirektor Björn Eriksson. „Jetzt können wir sagen: Der Sturm ist da.“

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