Eskalation in Ägypten - Fast 150 Tote

Kairo (dpa) - Nach der blutigen Räumung der islamistischen Protestlager in Kairo mit mindestens 149 Toten gilt in Ägypten für einen Monat der Notstand.

Landesweit wurden bei schweren Unruhen auch mehr als 1400 Menschen verletzt, wie das Gesundheitsministeriums am Mittwoch mitteilte. Die Muslimbrüder gingen von deutlich mehr Todesopfern aus. Aus Protest gegen das Vorgehen der Polizei legte Nobelpreisträger Mohammed ElBaradei sein Amt als Vizepräsident nieder. Die Vereinten Nationen, die USA und die Europäische Union verurteilten die Gewalt aufs Schärfste. Auch Außenminister Guido Westerwelle (FDP) zeigte sich äußerst besorgt, im Auswärtigen Amt trat der Krisenstab zusammen

Nachdem die Polizei die Anhänger des vor sechs Wochen gestürzten islamistischen Präsidenten Mohammed Mursi aus den Protestlagern vertrieben hatte, stürmten Sympathisanten der Demonstranten öffentliche Gebäude in mehreren Provinzen. Daraufhin rief Übergangspräsident Adli Mansur den Notstand aus. In Kairo und mehreren anderen Provinzen wurde eine Ausgangssperre von 21.00 Uhr bis 6.00 Uhr verhängt. Die Ausrufung des Notstandes ermöglicht Razzien und Festnahmen ohne gerichtliche Anordnung.

Die Polizei setzte bei der gewaltsamen Räumung der beiden Protestlager in Kairo erst Tränengas ein. Die Islamisten gingen mit Steinen und Flaschen auf Sicherheitskräfte los, später wurde von beiden Seiten scharf geschossen. Die Gewalt griff rasch auf andere Teile des Landes über. In der Hafenstadt Alexandria stürmten Islamisten das provisorische Gouverneursgebäude. Zu Ausschreitungen kam es auch in Assiut, Suez, Beni Sueif, Al-Scharkija, Al-Mahalla Al-Kubra und Al-Minia.

Die Übergangsregierung verkündete daraufhin den Notstand und verhängte die Ausgangssperre. Auch der Zugverkehr von und nach Kairo wurde vorübergehend eingestellt, offensichtlich um die Bewegungsfreiheit von Protestgruppen einzuschränken. Die Islamisten hatten die Zeltlager in Kairo vor fünf Wochen errichtet, um Mohammed Mursis Wiedereinsetzung zu erzwingen. Das Militär hatte den Präsidenten am 3. Juli nach Massenprotesten abgesetzt.

ElBaradei legte derweil sein Amt als Vizepräsident nieder. „Ich habe meinen Rücktritt eingereicht, weil ich nicht die Verantwortung für Entscheidungen, mit denen ich nicht einverstanden bin, tragen kann“, sagte er nach einem Bericht des Nachrichtensenders Al-Arabija.

Die Europäische Union und die USA verurteilten die Eskalation der Gewalt. Die Rechte aller Bürger auf Meinungsäußerung und friedlichen Protest müssten gewahrt bleiben, verlangte die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton. Die andauernde Gewalt werde den Weg zu einer stabilen Demokratie nur erschweren, warnte der stellvertretende Sprecher des Weißen Hauses, Josh Earnest. Den türkischen Staatspräsidenten Abdullah Gül zitierte die Nachrichtenagentur Anadolu mit den Worten: „Was heute in Ägypten passiert, ist völlig inakzeptabel.“

Außenminister Westerwelle berief wegen des Blutvergießens den Krisenstab des Auswärtigen Amts ein und forderte bei einem Besuch in Tunesien: „Das Blutvergießen muss beendet werden, und zwar durch Gespräche und Verhandlungen.“ Er appellierte erneut an alle Deutschen in dem Land, die Reisehinweise des Auswärtigen Amts im Internet zu beachten. In der ARD nannte er den Rücktritt ElBaradeis am Abend eine „Schwächung des politischen Prozesses“. Westerwelle hatte erst vor zwei Wochen mit Vertretern der Übergangsregierung und der Muslimbrüder gesprochen.

Die ägyptische Regierung verteidigte das gewaltsame Vorgehen der Polizei. In einer Erklärung des Außenministeriums hieß es am Mittwochabend, man bedauere das Blutvergießen. Die Regierung habe jedoch keine andere Wahl mehr gehabt, als die Polizei zur „Durchsetzung des Rechts“ aufzufordern.

Der Vorsitzende der salafistischen Partei des Lichts, Junis Machiun, erklärte: „Wir fordern die Führung dieses Landes auf, die Gewalt gegen die Protestierenden und friedlichen Demonstranten einzustellen.“ Die radikale Partei des Lichts und die gemäßigte Islamistenpartei Starkes Ägypten sind die einzigen unter den größeren Islamistenparteien, die sich nach Mursis Sturz nicht mit den Muslimbrüdern solidarisiert hatten.

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