Großbritannien Eine Insel, die sich selbst nicht mehr versteht

Düsseldorf · Die Brexit-Diskussion spaltet in Großbritannien nicht nur die Politik. Auch das Privatleben ist von der Zerreißprobe geprägt. Erklärungsversuche von Briten und von Deutschen, die schon seit Jahrzehnten in dem inzwischen so orientierungslosen Land leben. 

 Ein Mann demonstriert gegen den Brexit. Das Thema spaltet das Land – und das nicht nur auf der politischen Ebene. Auch im Privatleben sind die Menschen von der Diskussion geprägt.

Ein Mann demonstriert gegen den Brexit. Das Thema spaltet das Land – und das nicht nur auf der politischen Ebene. Auch im Privatleben sind die Menschen von der Diskussion geprägt.

Foto: dpa/Alastair Grant

Es gibt seit Monaten ein paar Standardsätze, wenn vom Brexit die Rede ist: dass die Briten gespalten sind; dass sie endlich sagen müssen, was sie wollen, und nicht nur, was sie nicht wollen; dass Europa die Briten nicht mehr versteht. Aber verstehen die Menschen, die auf der Insel leben, sich überhaupt noch selbst?

„Nein, viele Menschen in Großbritannien aus beiden Lagern erkennen unser Land und unser Parlament nicht mehr wieder“, sagt Anne Logan. Die 64-Jährige war bis zu ihrer Pensionierung Pfarrerin in der schottischen Hauptstadt Edinburgh. Viele hofften, eines Tages aufzuwachen und festzustellen, dass alles nur ein böser Traum war, sagt sie. „Es gibt inzwischen Berichte über politische Depression, also eine Depression, die von Menschen ausgeht, die sich machtlos fühlen.“

Schon jetzt Probleme in
der Medikamentenversorgung

Aber müsste die Einsicht in die immer klareren Konsequenzen eines Austritts aus der EU nicht eine wachsende Zahl von Briten zur Einsicht bringen? Annes Ehemann Mike Logan ist da skeptisch. Der 64-Jährige ist seit 40 Jahren Anästhesist im größten Krankenhaus von Edinburgh. Er erinnert sich an das kurze Gespräch mit einer Apothekerin über mögliche künftige Schwierigkeiten bei der Medikamentenversorgung aus der EU. Die gebe es bereits jetzt, versicherte ihm die Frau: Durch Hamsterkäufe beim Insulin seien schon Lieferschwierigkeiten entstanden. Und das bei einem so lebenswichtigen Medikament.

Dann sei ja wohl klar, dass sie bei einem zweiten Votum gegen den EU-Ausstieg stimmen würde, sagte Logan der erklärten Brexit-Unterstützerin. Ihre Antwort: Sie würde genauso entscheiden wie beim ersten Mal. Das war der Moment, in dem der Arzt begriff: Es gibt unter den Brexit-Anhängern nicht nur Menschen, die alle negativen Folgen der Entscheidung einfach ignorieren oder leugnen. Sondern daneben finden sich auch viele, die sehr wohl die teils katastrophalen Konsequenzen erkennen und einräumen, aber dennoch nicht von ihrer Haltung abweichen.

„Anstatt zuzugeben, dass die Entscheidung falsch war, ändern sie die Erzählung, sodass die Entscheidung für sie richtig erscheint“, sagt seine Frau Anne. „Wenn die britische Wirtschaft nach dem Brexit zusammenbricht, werden einige Wähler die EU, die Politiker, die Einwanderer oder die Medien dafür verantwortlich machen, wirklich jeden – außer sich selbst.“

Die Risse gehen selbst mitten durch Familien. Kathrin Taylor (Name geändert), mit einem Briten verheiratete Deutsche, die seit 28 Jahren auf der Insel lebt, berichtet: „Freunde von uns haben beim Abendessen erzählt, wie geschockt sie waren, dass ihre 30-jährige Tochter, die mit einem Franzosen verheiratet ist, für den Brexit gestimmt hat.“ Die Leidenschaft reiche auf beiden Seiten tief. „Auch gewöhnliche Menschen streiten sich über nichts anderes.“

Eine Erfahrung, die die 55-Jährige mit Irene Ashby (68) teilt. Die Deutsche lebt seit 1975 auf der Insel und stößt unter Briten inzwischen häufiger auf die Verklärung einer vermeintlich glorreichen Vergangenheit: „Es tat mir weh, als eine Frau, die ich mag und deren Engagement ich respektiere, von ihrer Sehnsucht ,to make Britain great again’ sprach. Da kann ich nur schlecht argumentieren, aber muss den Kopf schütteln.“

Alle beschreiben die Atmosphäre im Land als angespannt und ängstlich, „aber viele, egal ob Befürworter oder Gegner, wollen das Thema jetzt auch endlich hinter sich lassen“, sagt Anne Logan. Die Regierung befasse sich beinahe ausschließlich mit dem Brexit „und in der Rede der Queen zur Parlamentseröffnung wurde fast kein anderes Gesetzesvorhaben angekündigt als der Brexit“. Kathrin Taylor hat ungläubig registriert, dass selbst die Probleme mit den Neuerungen im Sozialversicherungssystem, die zu Zahlungsschwierigkeiten führten, kaum thematisiert wurden.

Freizügigkeit als Sündenbock
bei sozialen Schwierigkeiten

Bei der Ursachenforschung gerät Irene Ashby zunehmend in Wut auf die britische Politik. „Durch sie werden immer mehr Briten an den Rand gedrückt und der Boden wird geschaffen für Engstirnigkeit und Radikalisierung.“ Eine Freundin mit doppelter Staatsbürgerschaft sei gerade aus der Region East Anglia zurückgekehrt und habe Verständnis geäußert für ältere Menschen, die sich fremd im eigenen Städtchen fühlten, wenn man abends nur noch Polnisch auf der Straße höre.

„Der Brexit wurde vor allem in ländlichen, armen und unterversorgten Gebieten stark unterstützt und für viele Menschen war die Beschränkung der Zuwanderung der wichtigste Punkt“, sagt Kathrin Taylor. Auf dem Land mangele es an Schulen, Krankenhäusern und Wohnungen. „Die Freizügigkeit hat für manche das Fass zum Überlaufen gebracht.“ Die Forschungspharmazeutin sieht als größten Fehler auf EU-Seite an, dass europäische Fördergelder, die in arme Regionen wie Wales oder Manchester geflossen sind, nie offensiv bekanntgemacht wurden. „Ich bin mir sicher, dass kaum jemand etwas davon mitbekam oder wusste, das die EU diesen Bereich unterstützt hat.“

Wie geht es weiter für die beiden Deutschen, die seit Jahrzehnten in Großbritannien leben? „Ich fühle mich vollkommen akzeptiert und sehr glücklich nach 43 Jahren in diesem Land“, sagt Irene Ashby. „Aber es ist mir bewusst, dass alte Gräben des Vorurteils nie 100-prozentig verschwinden, sondern auferstehen können.“ Immerhin sei sie vor zwei Wochen bei der Polizei gewesen, um wegen des EU-Status um Rat zu fragen. Der Rat hieß: abwarten.

Nicht so entspannt blickt Kathrin Taylor auf diese Frage. „Im Falle eines Brexits brauche ich eine Erlaubnis, um im Land zu bleiben, oder ich muss die britische Staatsangehörigkeit beantragen. Ich denke, dass sie mir gewährt wird, aber das wird ein großer Verwaltungsaufwand werden. Bis dahin müsste ich mich bei der Passkontrolle nach dem Urlaub in der Warteschlange der Ausländer anstellen, getrennt von meiner ansonsten komplett britischen Familie.“

Unterschiedlich starke Hoffnung
auf ein zweites Referendum

Irene Ashby glaubt, „dass die, die leichtfertig für den Brexit gestimmt haben, anders wählen würden, wenn es zu einem erneuten Referendum käme“, und setzt dabei auf die jungen Menschen. Auch Kathrin Taylor sieht mittlerweile eine Mehrheit auf Seiten der EU-Befürworter. Anne Logan ist da vorsichtiger: „Es ist sicher richtig, dass viele Menschen die Konsequenzen des Brexit inzwischen besser verstehen. Aber es ist auch richtig, dass viele diese Konsequenzen immer noch als Angstmacherei abtun. Das ist wie mit den Fake News von Donald Trump: Man kann nicht gegen etwas argumentieren, das nicht rational ist.“

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