Analyse: Klagewelle rollt über die Sozialgerichte

Das Bundessozialgericht mahnt dringend eine Reform der Hartz-Gesetze an.

Kassel. Anfangs hatten die Bundessozialrichter noch gar keinen Anlass zur Unruhe gesehen. Neues Gesetz, neue Klagen - das sei normal, sagte 2005 der damalige Präsident des Bundessozialgerichts (BSG), Heinrich Reiter, zu den ersten Klagen gegen die Hartz-IV-Reform. Doch heute ist die Gelassenheit längst dahin. Denn über die Jahre schwoll die Welle der Klagen ständig an.

2008 gingen 174 618 neue Klagen und Eilanträge bei den Sozialgerichten ein. Der neue Rekordstand war Anlass für den aktuellen BSG-Chef Peter Masuch, in einem ungewöhnlich deutlichen Appell eine Reform der Reform einzufordern. Der Zuwachs der Klagen und Eilanträge gegen Hartz IV lag 2008 bei satten 28 Prozent.

Die Sozialgerichte stöhnen immer lauter unter der Arbeitslast. Es sei deshalb Zeit, "dass der Gesetzgeber Bilanz zieht" und die Erfahrungen der Verwaltungen und Gerichte mit der Reform berücksichtige, sagte Masuch auf der Jahrespressekonferenz des Bundessozialgerichts.

Masuch benannte die Punkte, in denen Nachbesserungsbedarf bestehe: Die zu ungenauen Vorgaben zur Kostenerstattung für Unterkunft und Heizung, aber auch zur Anrechnung von Einkommen und Vermögen.

Gesetzliche Klarheit bei den Leistungen ist nur das eine Feld, auf dem die Bundesrichter dringenden Korrekturbedarf sehen. Klarheit fordern sie auch bei der Organisation. Zu Recht habe das Bundesverfassungsgericht gerügt, dass es bei den für die Auszahlung der Hartz-Leistungen zuständigen Arbeitsgemeinschaften aus Bundesagentur und Kommunen keine klaren Strukturen und Verantwortlichkeiten gebe.

Mit mehr als 100 Hartz-Entscheidungen habe das Bundessozialgericht eigentlich schon für Rechtsklarheit in vielen Bereichen gesorgt, erläuterte BSG-Vizepräsidentin Ruth Wetzel-Steinwedel.

Früher, bei der Arbeitslosenhilfe, habe die allein zuständige Bundesagentur für Arbeit solche Entscheidungen unmittelbar und bundesweit umgesetzt. Doch nun, da jede Arbeitsagentur für sich entscheidet, sei das anders.

"Es scheint, dass ein Teil unserer Entscheidungen gar nicht da ankommt, wo sie ankommen müssten", monierte Wetzel-Steinwedel. Im Klartext: Die Mitarbeiter kennen nicht die höchstrichterlichen Vorgaben, an die sie sich eigentlich bei der Entscheidung der Einzelfälle halten müssten.

BSG-Richter Peter Udsching ergänzt: Weil es bei den Agenturen auch mit der Beratung hapere, hätten die Kollegen in erster Instanz nicht nur Urteile zu fällen. "Das ist Sozialarbeit, was dort erledigt wird."

Zudem finde in vielen Fällen offenbar erstmals vor Gericht eine "umfassende Sachbearbeitung" statt, berichtete Michael Kanert, Hartz-Richter am größten deutschen Sozialgericht in Berlin. Mit 85 Prozent werden nach seinen Angaben in der Hauptstadt die weitaus meisten Klagen ganz ohne Urteil erledigt - nachdem der Richter über die Gesetzeslage aufgeklärt hat.

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