1968: Das Jahr, das Deutschland veränderte

Alles begann als Protest gegen verkrustete Strukturen und die Große Koalition, am Ende der Radikalisierung wollten viele Studenten die Revolution. So weit kam es nicht. Doch das Jahr der Revolte hinterließ eine andere Gesellschaft.

Düsseldorf. Am Anfang fiel ein Schuss. Es war der 2. Juni 1967. Der Abend, an dem der Student Benno Ohnesorg starb, gilt heute als der eigentliche Beginn des 68er-Aufstands in Deutschland. Bis dahin war vieles Spaß, Lust an der Provokation und das Ausleben eines neuen Lebensgefühls gewesen. Am 2. Juni bekam diese Jugendbewegung eine ungeahnte, explosive Dynamik.

Es war der Abend, an dem Bundespräsident Heinrich Lübke den Schah von Persien und seine Frau zur Deutschen Oper in Berlin begleitete. Tausende protestierten - weitgehend friedlich - gegen den Diktator aus Persien (später Iran), der sein Volk brutal unterdrückte. Als die Ehrengäste in der Oper verschwunden waren, begann die Gewalt: Die Polizei und ungebetene Helfer des persischen Geheimdienstes knüppelten den Protest rücksichtslos nieder. Beim Polizeibeamten Karl-Heinz Kurras löste sich in den Tumulten der Schuss, der Ohnesorg tötete.

65 Prozent der Studenten gaben später an, dass sie durch dieses Ereignis politisch geworden seien. Was als vereinzelter Protest gegen die verkrusteten Strukturen an den Unis, die Große Koalition und ihre Pläne für Notstandsgesetze begonnen hatte, wurde in diesen Wochen größer und radikaler: Nun ging es ums Ganze. Gegen die USA (Vietnamkrieg), gegen das "Establishment", die Springer-Presse und ehemalige Nazi-Funktionäre, für sozialistisch-revolutionäre Veränderungen.

Wo die Radikalisierung 1977 enden würde, im blutigen "Deutschen Herbst", deutete schon damals die spätere RAF-Terroristin Gudrun Ensslin an. In der Nacht, in der Ohnesorg starb, schrie sie: "Das ist die Generation von Auschwitz. Mit denen kann man nicht diskutieren." Was im Umkehrschluss hieß, nun helfe nur noch der Kampf.

Die 68er-Bewegung fand aber nicht nur auf der Straße statt. Studenten probierten in Kommunen, den Vorläufern der Wohngemeinschaften, neue Formen des Zusammenlebens aus. Die berühmteste war ab Anfang 1967 die "Kommune1" um Rainer Langhans, Dieter Kunzelmann, Fritz Teufel und später Uschi Obermaier in West-Berlin. Die Grundregel war die Aufgabe jeglicher Privatsphäre und Grenzen. Alles war erlaubt, solange es unter aller Augen innerhalb der Kommune geschah.

Mehr noch als die Kommunarden provozierte die Deutschen jedoch ein anderer: Rudi Dutschke - von großen Teilen der Studenten verehrt, vom überwiegenden Teil der Deutschen jedoch gefürchtet, von einigen gehasst. Seine breite soziologische Bildung und seine radikalen Forderungen verbunden mit einem außergewöhnlichen rhetorischen Talent machten ihn zur Führungsfigur der Außerparlamentarischen Opposition (Apo). Wo er auftrat, füllte er selbst größte Hörsäle. Während ihn die "Bild" zum Staatsfeind Nummer1 ausrief, fand er im linksliberalen Bürgertum auch gelegentlich interessierte Diskussionspartner.

Der Journalist Günter Gaus ging 1967 sogar das Wagnis ein, den damals 27-Jährigen in seine Sendung "Zu Protokoll" einzuladen. In dem Interview brachte Dutschke die Beweggründe der Apo so auf den Punkt: "Wir haben in unserem Parlament keine Repräsentanten, die die Interessen unserer Bevölkerung - die wirklichen Interessen - ausdrücken." Am 11. April 1968 überlebte er ein Attentat nur knapp. 1979 starb er an den Spätfolgen.

Die Schüsse auf Dutschke - aus Sicht der Studenten mitverursacht durch die polarisierende Berichterstattung der Springer-Presse - lösten die größten Unruhen seit Beginn der Proteste in Deutschland aus. Rund eine Woche lang kam es in fast allen größeren Städten zu Demonstrationen und Ausschreitungen. Ziel der Gewalt waren oft Gebäude des Springer-Verlags.

Die weitere Radikalisierung läutete zugleich den Zerfall der Bewegung ein. Die Friedfertigen unter den Protestierern wollten weder an Demonstrationen teilnehmen, bei denen nun regelmäßig massive Gewalt gegen Polizisten angewendet wurde, noch sich in endlosen Theorie-Diskursen in irgendwelchen obskuren K-Gruppen ergehen.

Als schließlich Willy Brandt 1969 Kanzler wurde, fanden viele Achtundsechziger ihre politische Heimat in der SPD, die 1970 zum einzigen Mal in ihrer Geschichte mehr als eine Million Genossen zählte. Einige wenige gingen jedoch in den Untergrund. Die Gruppe um Andreas Baader und Gudrun Ensslin, die später als RAF schreckliche Berühmtheit erlangte, hatte mit Brandanschlägen auf Frankfurter Kaufhäuser schon am 2. April 1968 den Weg in die Kriminalität gewählt.

Gemessen an ihren revolutionären Ansprüchen sind die Achtundsechziger gescheitert. Doch die Republik, die sie hinterließen, war eine andere: Dass heute ein unverheiratetes Paar selbstverständlich zusammenziehen kann, dass Frauen in vielen Bereichen die Dominanz der Männer beseitigt haben, dass die Gesellschaft offener und toleranter geworden ist - das alles wäre ohne 1968 nicht denkbar gewesen.

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