Wo das nukleare Grauen haust

Unter einer Straßenkreuzung in Berlin erstrecken sich bizarre Katakomben. Zu Zeiten des Kalten Kriegs hätten sie mehr als 3000 Opfer eines Atomkriegs aufnehmen können.

Berlin. Der große Horror lauert wenige Meter unter der Straßenkreuzung Pankstraße/Badstraße in Berlin-Wedding: Die Kammer wirkt wie ein Arztlabor aus einem B-Movie, in dem fiese Gesellen Experimente an Menschenkörpern durchführen.

Eine Sanitätsliege steht verloren in der Mitte des Raums, daneben ist ein Beistelltisch mit medizinischem Besteck aufgestellt. Meterlange Leuchtstrahler werfen ein käsiges Licht, es riecht muffig.

Der abgründige Ort ist ein Rettungsraum, wie ein Schild an der Tür verrät - der notärztliche Bereich des Atombunkers im Wedding, der 1977 erbaut wurde und 3346 Westberliner hätte schützen sollen, wenn eine sowjetische Atombombe gefallen wäre.

Wobei Rettungsraum ein schönfärberischer Ausdruck ist: Angesichts der spärlichen medizinischen Ausstattung hätten hier nur die wenigsten Verletzten versorgt werden können.

Auf einer Ablage an der Wand sind knapp zwei Meter lange Säcke aus Klarsichtfolie ausgebreitet. Maßgeschneidert für Leichen. Menschen, die im Kriegsfall an ihren Verletzungen gestorben wären, hätte man in diese Säcke gesteckt. Doch warum sind sie durchsichtig?

Makabre, aber historisch verbürgte Antwort: Anderen Bunker-Insassen wäre so der bizarre Genuss ermöglicht worden, die Leichen genauer zu betrachten. Apokalyptisches Entertainment-Programm sozusagen. Die Errichter des Bunkers hatten es so vorgesehen. "In einem Bunker wird es eben schnell langweilig. Es gibt kein Radio, kein Fernsehen, keine Bücher", erläutert Dominic Poncé, 38, und verzieht keine Miene.

Er ist Bunker-Experte und in dieser Eigenschaft wenig zimperlich mit dem Benennen von Fakten, bei denen sich anderen die Nackenhaare sträuben. Für den Verein "Berliner Unterwelten", der unterirdische Bauten betreut und zugänglich macht, veranstaltet er Führungen. Jetzt zeigt er den Atomschutzbunker Pankstraße.

Als Poncé mit genüsslicher Sachlichkeit die Geschichte von den Leichensäcken erzählt, umspielt ein kaum spürbares Grinsen seine Lippen. Man mag ihm seine unterschwellige Lust am Katastrophen-Szenario zunächst nicht krumm nehmen, denn man denkt sich selbst, dabei innerlich aufatmend: "Ist ja nie wahr geworden, ist ja nur Geschichte, die nie passiert ist!" Doch trotz dieses Blickwinkels will die Beklommenheit nicht weichen über das, was in den Katakomben zu sehen ist.

Wer sich durch die unscheinbare Tür am U-Bahnhof Pankstraße in den Atomschutzbunker begibt, sieht Zimmer, in denen Dutzende Menschen hätten hausen müssen, auf Hochbetten liegend, die mit Lkw-Planen bespannt sind. Oder über Waschbecken hängende Spiegel, die aus blank gescheuertem Blech sind. Glas wäre von den Insassen nur benutzt worden, um dem Albtraum mit einem Schnitt durch die Pulsader ein Ende zu setzen.

Der Atombunker gilt heute immer noch als funktionstüchtig, firmiert beim Berliner Senat offiziell als Zivilschutzanlage. Doch kursieren unter den Lokalpolitikern Pläne, das Monstrum für immer zu schließen. Der atomare Ernstfall ist schließlich nur noch fernes Schreckensbild aus den 80er-Jahren, der Hochphase des Kalten Kriegs.

Dominic Poncé macht diese untergegangene Welt zum didaktischen Ausstellungsobjekt: Geschichtsunterricht mit Gruselfaktor. In einem Büroraum, dessen speckige Kacheln an den Kühlraum einer Metzgerei erinnern, steht er auf einem Podest. Poncé, der mit seiner weichen Gesichtshaut und seinen strubbeligen Haaren viel jünger aussieht, als er ist, spielt Bunkerwart.

Er lugt durch ein kleines Fenster in der Wand vor ihm und drückt auf einen Knopf, der an einem Kabel befestigt ist. Der Knopf dient dazu, die Menschen zu zählen, die den Bunker betreten - einmal gedrückt, und schon schiebt sich eine Zahl auf einer Drehscheibe nach oben.

Durch das Fenster wird der hermetisch abgeriegelte Dekontaminationsraum sichtbar: ein viereckiges Gehäuse aus beigefarbenen Kacheln mit einer Dusche. "Dort hätten sich die Zivilisten mit Wasser waschen müssen." Schwer verstrahlte Opfer einer Atombombe mit Wasser abzubrausen, um ihre radioaktive Verseuchung zu mindern - das ist genauso sinnlos, als wolle man ein Krebsgeschwür mit Kamillentee behandeln. "Eine riesige Volksverdummung", sagt Poncé.

Nach der Duschprozedur wären die angeblich Geretteten vom Bunkerwart durchgeschleust worden. Im Dekontaminationsraum hätte sich eine schwere Tür geöffnet, und der Bunker hätte das verstörte Kriegsopfer, sofern nicht hoffnungslos verstrahlt, in seine Obhut genommen und zumindest vorübergehend vor dem nuklearen Grauen auf der Erdoberfläche bewahrt.

Vorübergehend deshalb, weil die Planer vom Berliner Senat nur eine Verweildauer von 14 Tagen beabsichtigt hatten. Poncé doziert: "Der Senat rechnete damit, dass 14 Tage nach dem Fall einer Atombombe in einer Distanz von 300 Kilometern nur noch vier Prozent der freigesetzten Radioaktivität im Umlauf sind." Da habe man gute Überlebenschancen.

Die Essensvorräte in der Notküche hätten nur für zwei Wochen gereicht, alle Erbsensuppen aus der Konserve wären dann ausgelöffelt gewesen. Was aber in der Küche als Mahnmal übrig geblieben wäre, neben all den Hunderten gelben Plastikschalen und -löffeln und neben den riesigen Töpfen, wäre ganz sicher ein doppeldeutiger Topflappen gewesen. Jemand hat ihn wohl beim Errichten des Bunkers, damals, zu Zeiten des Ost-West-Konflikts, der Küchen-Ausstattung hinzugefügt. Heute ist er absichtsvoll über einen Topfdeckel drapiert.

Dominic Poncé zeigt ihn jedem seiner Besucher. Er trägt die gestrickte Aufschrift: "Freue dich deines Lebens, denn es ist schon später, als du denkst."

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