Aktuelle Datenlage Wie aussagekräftig sind die Zahlen zur Corona-Pandemie?

Berlin · Bestimmte Maßzahlen sollen die Ausbreitung des Coronavirus einschätzen helfen. Für was brauchen wir solche Trends und wie gut sind die Daten dafür derzeit?

 Leere Proberöhren für die Blutentnahme – den Corona-Test gibt es auf Verdacht; aber wie viele Menschen sind wirklich infiziert?

Leere Proberöhren für die Blutentnahme – den Corona-Test gibt es auf Verdacht; aber wie viele Menschen sind wirklich infiziert?

Foto: dpa/Peter Kneffel

Ob Ärzte, Politiker oder Unternehmer – im Kampf gegen die Corona-Krise sind alle auf möglichst aussagekräftige Zahlen und Trends angewiesen. Die aktuelle Datenlage – zum Beispiel Informationen über die Zahl der tatsächlich Infizierten oder die Sterblichkeitsrate – ist aus Sicht von Experten wie dem Medizinstatistiker Gerd Antes noch viel zu dünn. Eine solide Zahlenbasis wäre demnach „extrem wichtig“, unter anderem, um gegen die Verunsicherung in der Bevölkerung arbeiten zu können.

„Außerdem braucht man verlässliche Zahlen als Planungsgrundlage, weil wir nicht so richtig wissen, wie groß der Tsunami wird, der da auf uns zukommt“, sagt der ehemalige Leiter des Deutschen Cochrane Zentrums am Uniklinikum Freiburg. Nur mit den entsprechenden Zahlen könne man vorhersehen, wie sehr zum Beispiel die Intensivbetten in Deutschland in Zukunft ausgelastet sein werden und wie hoch der Bedarf an Beatmungsgeräten sein wird.

Die Politik muss entscheiden können, wann und wie schnell Einschränkungen für die Bevölkerung wieder aufgehoben werden können. „,Flatten the curve’ ist als Erstreaktion richtig“, sagt der Mathematiker. Doch nicht nur das Virus richtet gesundheitlichen Schaden an, sondern auch die sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Einschränkungen. Diese Risiken müsse man gegeneinander abwägen können. Eine solche Abwägung hält Antes mit der derzeitigen Informationslage nicht für möglich.

 Medizinstatistiker Gerd Antes hält die bisher bekannten Daten für zu dünn.

Medizinstatistiker Gerd Antes hält die bisher bekannten Daten für zu dünn.

Foto: dpa-tmn/Uniklinikum Freiburg

Man könne nicht einfach nur auf einen Impfstoff warten, so der Experte. Schlimmstenfalls müssten genug Menschen das Virus bekommen und immun werden, um die weitere Verbreitung stoppen zu können. Dieser Prozess des „Durchseuchens“ dürfe wegen der stärker werdenden ökonomischen und sozialen Probleme auch nicht zu lange dauern. „Es klingt befremdlich und zynisch, aber belegte Intensivbetten bedeuten auch eine positive Botschaft“, sagt Antes. Aus seiner Sicht braucht es verlässliche Zahlen also auch, um das Gesundheitssystem möglichst gut auszulasten, aber eben keinesfalls zu überlasten.

Aussage über Dunkelziffer bräuchte breit angelegte Studie

Derzeit gibt es für die Tests auf Sars-CoV-2 immer noch eine sehr unterschiedliche Praxis, auch bei ähnlichen Symptomen, Herkunft aus Risikogebieten oder Kontakt mit Infizierten wird die Entscheidung für oder gegen einen Test nicht einheitlich gefällt, wie Antes sagt. Um herauszufinden, wie viele Menschen in Deutschland überhaupt infiziert sind, bräuchte es eine großangelegte Bevölkerungsstichprobe.

Erst mit hochwertigen, testunabhängigen Studien lasse sich berechnen, wie viele Infizierte es in Deutschland tatsächlich gibt. „Sie müssen jetzt sehr schnell und mit hoher Qualität durchgeführt werden, auch wenn man dafür Millionenbeträge auf den Tisch legen muss“, sagt der Wissenschaftler. Der Berliner Virologe Christian Drosten schrieb dazu vor wenigen Tagen auf Twitter: „Eine eventuelle Dunkelziffer kann man nur durch geografisch breit angelegte Untersuchungen bestimmen.“

Die Göttinger Entwicklungsökonomen Christian Bommer und Sebastian Vollmer haben sich trotzdem bereits an einer Berechnung versucht und gingen für Ende März von etwa 460 000 Infizierten in Deutschland aus, wie die Universität Göttingen vor Kurzem mitteilte. Das hieße, dass gut 80 Prozent der tatsächlichen Infektionen in der Bundesrepublik gar nicht registriert wären. In anderen Ländern ist die Dunkelziffer den Ökonomen zufolge wohl noch größer. Nach ihrer Rechnung könnten in Italien nur etwa 3,5 Prozent und in Spanien nur 1,7 Prozent der Infektionen offiziell erfasst sein. Solche Effekte könnten mit erklären, warum die Sterberate in beiden Ländern vermeintlich viel höher ist als in Deutschland.

Doch gesicherte Angaben gibt es auch für Deutschland nicht. „Gegenwärtig ist jeder Tote, der positiv auf das Coronavirus getestet wurde, ein Corona-Toter“, sagt Antes. Es wird vom Robert Koch-Institut (RKI) nicht erfasst, ob ein mit dem Virus Infizierter tatsächlich an Covid-19 gestorben ist – oder etwa an seinen Vorerkrankungen. Vermutlich gebe es zudem viele Schwerkranke, die ohnehin bald gestorben wären, so Antes. Der Einfluss auf die Sterbezahlen könne gesichert erst im Nachhinein berechnet werden, wenn das Jahr 2020 mit den Vorjahren verglichen werde.

Trotz der dünnen Datenlage müssen für die Entscheidungsträger aber schon jetzt Trends gezeichnet werden. Das geschah bislang unter anderem mit der sogenannten Verdopplungszeit. Sie soll aussagen, wie viele Tage es dauert, bis sich die Zahl der nachweislich Infizierten verdoppelt hat. Die Berechnung scheint einfach, die Bedeutung der Zahl simpel – je höher, desto besser.

Doch mathematisch gibt es Probleme: „Die Verdopplungszeit wird unter der Annahme berechnet, dass die Anzahl der bekannten Infektionen exponentiell wächst“, sagt Moritz Kaßmann, Experte für Angewandte Analysis an der Universität Bielefeld. Doch die Zahl der registrierten Infizierten wächst nicht mehr exponentiell. Das liegt auch an den bestehenden Einschränkungen im öffentlichen Leben. Damit verliert die Zahl ihre Aussagekraft: „Man kann deswegen keineswegs auf die Zukunft schließen, wie es der Sinn der Verdopplungszeit eigentlich ist“, sagt Kaßmann.

Eine Alternative zur Verdopplungszeit ist die sogenannte Reproduktionsrate. Sie sagt aus, wie viele Menschen ein Infizierter im Durchschnitt ansteckt. Je niedriger der Wert, desto besser. Liegt die Reproduktionsrate bei über 1, steckt ein Infizierter im Mittel mehr als einen anderen Menschen an – so erhöht sich die Zahl der täglichen Neuinfektionen. Liegt die Rate unter 1, steckt ein Infizierter im Mittel weniger als einen anderen Menschen an – und die Epidemie läuft nach und nach aus.

Die Berechnung der Reproduktionsrate ist komplex. Wissenschaftler können verschiedene Modelle wählen und müssen Parameter schätzen. „Mit verschiedenen Methoden kommt man zu verschiedenen Ergebnissen“, sagt Moritz Kaßmann. Der Mathematiker empfiehlt deshalb für die Kommunikation über die Entwicklung der Corona-Fallzahlen ganz simpel die Zahl der täglichen Neuinfektionen. Der Wert sagt aus, wie viele Menschen täglich neu als Infizierte registriert wurden. Sinkt die Zahl über mehrere Tage, kann das als positiver Trend verstanden werden.

Um Schwankungen von einzelnen Tagen oder vom Wochenende auszugleichen, wird in der Regel der Mittelwert von mehreren vergangenen Tagen berechnet. Doch egal welche Zahl man wählt, eins muss klar sein: Die Vorhersagen können immer nur so gut sein wie die Zahlen, aus denen sie berechnet wurden.

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