Wählscheibe und Co.: So klingt die Vergangenheit

Zwei Essener konservieren altvertraute Klänge. Und ein Düsseldorfer zeichnet Alltagsgeräusche auf.

Wählscheibe und Co.: So klingt die Vergangenheit
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Essen/Düsseldorf. Jan Derksen hält das Kontrollgerät seiner alten Spielekonsole in den Händen. Tagelang hat er als Kind damit „Super Mario“ gespielt. Heute klemmen die Tasten, und die Klappe für die Spiele quietscht laut. Derksen hat diese Geräusche hochgeladen, in sein Online-Archiv für verschwindende Geräusche.

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Der 33-Jährige bezeichnet sich als Geräusche-Retter. Gemeinsam mit seinem Freund und Geschäftspartner Daniel Chun hat er das Projekt „Conserve the Sound“ in Essen auf die Beine gestellt. 120 Geräusche haben sie bereits gesammelt, wie das Klappern von Schreibmaschinen, das Rattern einer alten Schmalfilmkamera, oder das sanfte Schleifen einer Fensterkurbel im Auto. Weil diese Geräusche in Vergessenheit geraten und bald ganz verschwunden sein könnten.

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Seit Jahrhunderten dokumentiert die Menschheit ihre Geschichte in Bildern. Doch den Ton festhalten, das können wir erst seit etwas mehr als hundert Jahren, sagt Karl Karst, Vorsitzender der Initiative Hören. Viel Wissen ist deshalb verloren gegangen: über die Laute von längst ausgestorbenen Tierarten zum Beispiel. Doch auch heute werde unsere akustische Welt kaum konserviert, sagt Karst.

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„In der heutigen Welt dominiert das Visuelle“, sagt Axel Ganz, Musiker und Grafiker aus Düsseldorf. Er sammelt Geräusche und hat seit 2009 bereits rund 1000 dokumentarische Tonaufnahmen angefertigt. Einige davon stellt er im Blog www.jahrgangsgeraeusche.de zum Hören und Downloaden zur Verfügung. „Während viele Menschen auf der Straße mit Kopfhörern herumlaufen und die Alltagsgeräusche ignorieren, mache ich das Gegenteil. Ich horche in die Alltagsgeräusche hinein.“ Er bedauert es, dass Hören als Sinn unterschätzt werde.

Dabei hätten Geräusche eine viel eindringlichere Wirkung als visuelle Signale, erklärt Holger Schulze, Professor für Sounddesign an der Humboldt-Universität in Berlin. „Klänge wirken körperlich sehr intensiv.“ Er fügt hinzu: „Ohne, dass uns das bewusst ist, können Klang-Erinnerungen auch körperliche Erinnerungen abrufen. Wir erinnern uns dann nicht nur an ein Geräusch, sondern an eine ganze Lebensumgebung.“ Ein Lied könne Erinnerungen an den Duft des Ex-Partners hervorrufen.

Für Ganz ergeben Geräusche eine ganz eigene Symphonie. Er nimmt in Kirchen, Museen, Bahnhöfen oder in der Straßenbahn auf — aber keine Gespräche. Sein mobiles Aufnahmegerät hat der 48-Jährige immer dabei. Mitunter wird er beim Aufnehmen komisch angesehen, wenn er etwa bei der Zahnreinigung auf „Aufnahme“ drückt. „Auf dem Flughafen neben dem Sicherheitscheck fand die Security es nicht so prickelnd, was ich tat“, erinnert sich Ganz.

Eines seiner Lieblingsgeräusche: der Regen. Ganz nimmt nämlich besonders gern in der Natur auf. Im Sommer reist er nach Sibirien, dort will Ganz unter anderem Vulkane aufnehmen. Solche Naturaufnahmen können auch mehrere Stunden dauern. „Ich fühle mich wie ein Angler, der seine Angel auswirft und wartet, bis ein Fisch anbeißt“, beschreibt Ganz das. Geduld sei wichtig. Insgesamt gehe es ihm darum, jetzt Geräusche für die Nachwelt festzuhalten. Es sei doch schade, dass man sich nicht mehr vorstellen könne, wie sich Straßen anhörten, als es noch Pferdekutschen gab.

Derksen schaut bereits zurück. Viele Geräusche im Conserve-the-Sound-Archiv sind Erinnerungen an dessen Jugend. Jahrelang lagerten die klangvollen Maschinen und Apparate in seinem Keller, heute stehen sie in einem grauen Schrank in seinem Büro in Essen: Die elektrische Schreibmaschine, auf der er seine ersten Schularbeiten tippte. Der Walkman, mit dem er seine selbst aufgenommenen Kassetten abspielte — und so selbst seine Umwelt aufzeichnete.

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