Corona-Umfrage „Wir brauchen differenzierte Öffnungsstrategien“

Berlin · Vertreter aus Politik und Verbänden fordern klare Perspektiven im Umgang mit Corona-Krise.

 „Reise nicht notwendig? Bleiben Sie bitte zu Hause“ steht auf einer mobilen Infotafel auf der Autobahn 30 am Grenzübergang zwischen Deutschland und den Niederlanden.

„Reise nicht notwendig? Bleiben Sie bitte zu Hause“ steht auf einer mobilen Infotafel auf der Autobahn 30 am Grenzübergang zwischen Deutschland und den Niederlanden.

Foto: dpa/Friso Gentsch

Die Bundesregierung ruft zur Geduld im Umgang mit der Corona-Krise auf. So sollen die Einschränkungen noch mindestens bis zum 19. April Bestand haben. Trotzdem ist die Debatte über eine Rückkehr zur Normalität bereits im vollen Gange. Unter welchen Bedingungen könnte das geschehen? Halten die Menschen und die Wirtschaft das durch? In einer kleinen Umfrage unseres Berliner Büros haben namhafte Persönlichkeiten aus Politik und Verbänden dazu Stellung genommen.

KATRIN GÖRING-ECKARDT, Vorsitzende der Bundestagsfraktion der Grünen: Die Freunde und Familie nicht sehen, die Angst um den Job, die ständige Unsicherheit - der Corona-Shutdown verlangt viel. Wir haben Sehnsucht nach Normalität. Doch die Einschränkungen sind nötig. Damit unser Gesundheitssystem den erst noch bevorstehenden Ansturm an Corona-Kranken aushält und wir die besonders Verletzlichen schützen können.

Das Krisenmanagement wird dann weiter auf Unterstützung stoßen, wenn die Regierung ihre Überlegungen offenlegt. Gerade schwierige Abwägungen müssen transparent diskutiert werden. Dabei ist klar: Wir werden den Schalter nicht einfach so zurücklegen können. Zwingende Voraussetzung für eine Lockerung sind höhere Testkapazitäten und viel besser ausgestattete Krankenhäuser und eine funktionierende Kontaktnachverfolgung von Infizierten. Wir sollten auch schon jetzt die Zeit nach der Krise in den Blick nehmen. Die Regierung muss ein Investitionsprogramm vorbereiten - für digitale Infrastrukturen, klimaneutrales Wirtschaften und ein starkes Gesundheitssystem. Dabei wollen wir den wirtschaftlich-ökologischen Aufbruch mit einem sozialen Zukunftsprogramm verbinden. Wir müssen mit aller Kraft verhindern, dass Menschen in Armut geraten. Den vielen kleinen Unternehmen und Selbstständigen wollen wir mit einer neuen Gründeroffensive aus der Krise helfen. Und ich wünsche mir, dass wir auch eine Debatte über den Wert von Arbeit führen. Egal ob Pflegekräfte, Erzieher oder Kassiererinnen - wer in der Not für uns alle da ist, hat deutlich bessere Löhne verdient."

ERIC SCHWEITZER, Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages: Wir können im Wochentakt messen, wie sich die wirtschaftliche Lage vieler Betriebe verschlechtert. Das Verständnis für den Shutdown ist auch in der Wirtschaft groß. Die Unternehmen brauchen aber möglichst bald eine klare Orientierung, wie sie künftig – jenseits der konkreten Terminfrage - ihre Geschäftstätigkeit an die höheren Vorgaben des Gesundheitsschutzes anpassen können. Es darf kein Dauerzustand werden, dass sonntags verkündet wird, was ab Montag gilt. Denn Unternehmen wollen sich gerade jetzt in der Phase des Shutdowns vorbereiten für den Start unter veränderten Bedingungen.

Zudem sollten staatliche Stellen die Unternehmen bei diesem Wege begleiten, wo die Wirtschaft auf hoheitliches Handeln angewiesen ist. Hier sind aktuell erhebliche Unterschiede zu erkennen. In einigen Bundesländern bearbeiten Behörden sogar am Wochenende Soforthilfe-Anträge. Anderswo müssen Unternehmen dagegen erleben, dass sie etwa wegen – auch digital - geschlossener KfZ-Zulassungsstellen zum Beispiel Reisebusse nicht abmelden können oder Grundbuchämter ihre Arbeit komplett einstellen.

Wir hören auch viele positive Beispiele, insbesondere über Arbeitsagenturen und Finanzämter, die sehr flexibel agieren. Deshalb mein Appell an alle staatlichen Stellen: Sie helfen vielen Unternehmen und damit der gesamten Wirtschaft sehr, wenn sie Ihre Serviceleistungen mit kreativen Mitteln und virtuell aufrechterhalten. Dann können sich alle besser auf die Zeit nach dem Shutdown vorbereiten.“

STEFAN KÖRZELL, Vorstandsmitglied des Deutschen Gewerkschaftsbundes: Die Gesundheit der Menschen geht vor. Das muss angesichts der Sehnsucht nach einem Zurück in „das alte Leben“ so deutlich gesagt werden. Deutschland kann sich die Corona-Hilfsprogramme für Beschäftigte, Klein- und Mittelbetriebe, Selbstständige und Unternehmen, für Eltern und Familien leisten. Die Bundesregierung muss daher nachlegen, um soziale Schieflagen zu verhindern – etwa beim Kurzarbeitergeld. 60 beziehungsweise 67 Prozent Kurzarbeitergeld reichen kaum für die Miete und die Versorgung der Familie. Wenn sich Arbeitgeber einer tarifvertraglichen Aufstockungszahlung verweigern, dann ist die Politik in der Pflicht. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer müssen sich im Zweifel darauf verlassen können, dass die Krise nicht auf ihrem Rücken ausgetragen wird. Sie sind systemrelevant.

Wir brauchen jetzt sozialen Zusammenhalt und Solidarität, um danach nicht vor einem Scherbenhaufen zu stehen. Wir brauchen weitsichtige Entscheidungen, die das Wohl aller im Blick haben, dabei jedoch die Grundrechte nicht lange außer Kraft setzen. Deshalb sollten wir uns auch nicht treiben lassen von jenen, die vorschnelle Exit-Strategien fordern und dabei vor allem den Profit im Auge haben. Über den Zeitpunkt, wann die Kontaktsperren gelockert und die Wirtschaft wieder hochgefahren wird, entscheiden die demokratisch gewählten Vertreterinnen und Vertreter des Volkes – national wie europäisch!

ULRICH SCHNEIDER, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes: Jetzt ist es allen klar: Der 19. April, der Tag, bis zu dem laut Bundeskanzlerin Merkel, die zahlreichen Einschränkungen des wirtschaftlichen und sozialen Lebens in Deutschland auf keinen Fall gelockert werden, wird nicht zugleich der letzte Tag gewesen sein, an dem wir in einem Corona-Ausnahmezustand leben müssen. Der Exit wird Schritt für Schritt stattfinden müssen; immer nur so schnell wie es medizinisch vertretbar ist und die unzureichenden Kapazitäten unseres zusammengesparten Gesundheitssystems es zulassen. Daran führt kein verantwortbarer Weg vorbei.

Die soziale und politische Herausforderung wird darin bestehen, trotz einer tiefen Rezession, auf die wir zusteuern, trotz der massiven Einschränkungen des öffentlichen Lebens und damit auch sozialer Hilfsangebote - von Krisenberatungsstellen über Hilfen für behinderte Menschen bis zu den Tafeln - dafür zu sorgen, dass diese Gesellschaft, die schon vor Corona tief gespalten war zwischen Arm und Reich, nun nicht völlig zerbricht. Eine Gesellschaft hält man zusammen, indem man vermeidet, dass Menschen nicht in Armut fallen, und die, die bereits arm sind, nicht ins Bodenlose. Die Regierung hat mit ihren Rettungsschirmen für Wirtschaft und Mittelschicht rasch und couragiert gehandelt. Gut so. Nun aber ist es höchste Zeit, auch etwas für die Armen in diesem zu Lande zu tun, für Millionen Bezieher von Hartz IV und Altersgrundsicherung. Wir dürfen sie nicht vergessen.

MARCO BUSCHMANN, Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der Bundestagsfraktion der FDP: Der Corona-Shutdown bedeutet tiefe Freiheitseinschnitte. Trotzdem war es richtig, ihn auszurufen. Denn im Zweifel muss man auf tödliche Gefahren lieber zu vorsichtig als zu unvorsichtig reagieren.

Gleichzeitig sind sich alle Experten einig, dass der Shutdown in seiner jetzigen Form nicht unbegrenzt fortgesetzt werden kann. Schon aus medizinischen Gründen: Er beeinträchtigt die medizinische Versorgung. Denn Therapien und Operationen werden verschoben. Auch ist die psychische Belastung für viele Menschen enorm. Der wirtschaftliche Stillstand bedroht zudem die Grundlagen unseres Wohlstands. Das schließt auch die Finanzierung unseres Sozialstaates einschließlich seines guten Gesundheitssystems mit ein.

Wir müssen daher differenzierte Öffnungsstrategien entwickeln, um den Shutdown Stück für Stück medizinisch verantwortbar zu lockern. Dabei geht es nicht um ein Datum, sondern um verantwortbare Kriterien. Wenn die Forschung zeigt, dass mit gewissen Vorkehrungen eine Infektion im Einzelhandel hochgradig unwahrscheinlich ist, dann sollte Einzelhandel wieder erlaubt sein. Wenn automatisierte Produktion so möglich ist, dass die Mitarbeiter ohne weiteres die vom Robert-Koch-Institut empfohlenen Abstände zueinander einhalten können, dann sollte diese Produktion stattfinden können. Und wenn es nach allem, was wir wissen, ausgeschlossen ist, sich zu infizieren, wenn man allein auf einer Parkbank sitzt und ein Buch liest, dann sollte das auch nicht länger verboten sein.

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