Medizinethik Triage: Welche Kriterien in Deutschland gelten

Düsseldorf · Seit Mittwoch liegen Empfehlungen für den Fall nicht ausreichender Intensivressourcen vor. Entscheidend ist die Einschätzung der Überlebenschancen bei einer Therapie.

 Vielerorts, wie etwa in Italien, reichen die medizinischen Ressourcen nicht immer, um alle Patienten zu behandeln. Für Deutschland sind nun klinisch-ethische Empfehlungen für diese Fälle entwickelt worden.

Vielerorts, wie etwa in Italien, reichen die medizinischen Ressourcen nicht immer, um alle Patienten zu behandeln. Für Deutschland sind nun klinisch-ethische Empfehlungen für diese Fälle entwickelt worden.

Foto: picture alliance/dpa/Domenico Stinellis

Angesichts der Corona-Pandemie berichten Katastrophenmediziner über dramatische Zustände im Elsass. Nach einem Bericht des Deutschen Instituts für Katastrophenmedizin in Tübingen an die baden-württembergische Landesregierung arbeiten Mediziner der Universitätsklinik Straßburg auch weiter mit Corona-Patienten, wenn sie selbst infiziert sind. Zudem würden Patienten, die älter als 80 Jahre sind, nicht mehr beatmet, heißt es in dem Papier nach Angaben mehrerer Medien. Stattdessen erfolge „Sterbebegleitung mit Opiaten und Schlafmitteln“.

Damit ist auch im Elsass, das als Frankreichs Epizentrum der Corona-Krise gilt, das eingetreten, was zuvor schon aus den am schlimmsten von der Pandemie betroffenen Regionen Italiens berichtet wurde: Der Mangel an Beatmungsgeräten wird zum Nadelöhr, die Ärzte müssen infolgedessen Behandlungsprioritäten setzen. Dafür gibt es den Begriff der Triage (vom französischen trier für auswählen, aussuchen). Die Entscheidung, Patienten über 80 Jahren im Notfall nicht mehr zu beatmen, gilt auch für gleichaltrige Menschen in den Pflegeheimen. Die Ethikkommission gibt für diese Fälle vor, dass der Rettungsdienst für eine „schnelle Sterbebegleitung“ sorgen solle.

Gemeinsames Papier von sieben medizinischen Fachgesellschaften

Auch für Deutschland liegen inzwischen klinisch-ethische Empfehlungen im Zusammenhang mit Covid-19-Erkrankungen vor. Auf das elfseitige Papier haben sich sieben medizinische Fachgesellschaften am Mittwoch verständigt. Darin heißt es, „dass auch in Deutschland in kurzer Zeit und trotz bereits erfolgter Kapazitätserhöhungen nicht mehr ausreichend intensivmedizinische Ressourcen für alle Patienten zur Verfügung stehen, die ihrer bedürften“.

Anders als in Italien und Frankreich ist dabei das Alter der Patienten nicht das entscheidende Kriterium. „Wir haben uns ganz klar gegen das Kriterium ,Alter‘ entschieden und wollen sehr viel differenzierter vorgehen“, sagte Uwe Janssens, Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI).

In der Empfehlung heißt es, eine Priorisierung solle immer zwischen allen Patienten erfolgen, die einer Intensivbehandlung bedürfen, also nicht allein innerhalb der Gruppe der Covid-19-Erkrankten, sondern unter Einbeziehung beispielsweise von Unfall- oder Schlaganfallopfern. Auch sei es nicht zulässig, „allein aufgrund des kalendarischen Alters oder aufgrund sozialer Kriterien“ über vorrangige Behandlungen zu entscheiden.

Die Entscheidungen sollen möglichst nach dem Mehraugen-Prinzip erfolgen. Zu beteiligen seien sowohl zwei Intensivmediziner als auch Pflegekräfte und weitere Fachvertreter. Sie sollen zunächst die intensivmedinische Behandlungsnotwendigkeit klären und in einem zweiten Schritt die Überlebenschancen bei einer Intensivtherapie. Bei dieser Bewertung spielen sowohl die aktuelle als auch vorhandene Vorerkrankungen eine Rolle.
An dritter Stelle steht die Prüfung des (womöglich schon in einer Verfügung vorliegenden) Patientenwillens. Erst dann sehen die ethischen Empfehlungen eine Priorisierung der Behandlung vor, wenn die Ressourcen nicht für alle Patienten ausreichen.

„Sollten wir in die schwierige Situation kommen, zwischen Patienten entscheiden zu müssen, dann wollen wir gewappnet sein“, so Janssens, der Chefarzt der Klinik für Innere und Internistische Intensivmedizin am St.-Antonius-Hosital in Eschweiler ist. „Wir wollen am Ende dieses schwierigen, schmerzlichen Prozesses sagen können: Es war eine fundierte, gerechte Entscheidung.“

 Es  gehe ausdrücklich nicht darum, „Menschen oder Menschenleben zu bewerten“, heißt es in den Empfehlungen, sondern darum, mit begrenzten Ressourcen „möglichst vielen Patienten eine nutzbringende Teilhabe an der medizinischen Versorgung unter Krisenbedingungen zu ermöglichen“. 14 Autoren hatten zehn Tage an dem Papier geschrieben.

Ärzte in Italien und Spanien schon schwer traumatisiert

Janssens bewertete das Ergebnis als hervorragend und „absolut praxistauglich“. Es sei erschütternd gewesen zu sehen, unter welchem Druck Kollegen in anderen Ländern bereits Entscheidungen dieses Ausmaßes hätten fällen müssen, ohne irgendeine Orientierung zu haben. „Die Kollegen in Italien und Spanien sind jetzt schon schwer traumatisiert. Das geht an niemandem spurlos vorbei.“ Daher könne ein solcher Kriterienkatalog auf jeden Fall eine Stütze sein.

Zu den federführenden Autoren des Papiers gehörten Professor Georg Marckmann, Vorstand des medizinethischen Instituts der Universität München und Präsident der Akademie für Ethik in der Medizin, der Medizinethiker Gerald Neitzke von der Medizinischen Hochschule Hannover und der Medizinethik-Professor Jan Schildmann von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.

 Im Elsass wurden derweil am Donnerstag Corona-Patienten verlegt, um die Intensivstationen in der Region zu entlasten. Ein Sonderzug mit insgesamt 20 Erkrankten an Bord verließ Straßburg in Richtung Westfrankreich. An der Universitätsklinik in Straßburg wurden wurden Anfang der Woche 90 Patienten zwischen 19 und 80 Jahren beatmet. Nur drei von ihnen waren jünger als 50 Jahre und hatten keine Vorerkrankungen.

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