Tatort Bahnsteig Nach Attacke in Frankfurt - „Jetzt Angst zu haben ist völlig normal“

Frankfurt · Drama an Frankfurter Hauptbahnhof: Ein Mann stößt Mutter und Sohn vor einen ICE, der Junge stirbt. Was für ein Motiv könnte der Täter gehabt haben? Und müssen wir uns jetzt unwohl fühlen an Bahnsteigen?

 Nach der Attacke am Frankfurter Hauptbahnhof Angst zu haben, sei völlig normal, sagt ein Angstforscher.

Nach der Attacke am Frankfurter Hauptbahnhof Angst zu haben, sei völlig normal, sagt ein Angstforscher.

Foto: dpa/Frank Rumpenhorst

Noch Stunden später flattern die rot-weißen Absperrbänder der Polizei. Mehrere Gleise sind großräumig abgesperrt, damit Experten die Spuren sichern können. Mitten im Frankfurter Hauptbahnhof ist es ungewöhnlich ruhig, die Stimmung wirkt gespenstisch. Am Vormittag, kurz vor 10 Uhr, spielten sich an Gleis 7 grauenhafte Szenen ab. Eine Mutter stand mit ihrem acht Jahre alten Sohn am Bahnsteig, als die beiden plötzlich vor einen einfahrenden ICE gestoßen wurden.

„Das Kind wurde vom Zug überrollt und tödlich verletzt, es starb noch im Gleisbett“, sagte Polizeisprecher Thomas Hollerbach. „Der 40 Jahre alten Mutter ist es noch gelungen, sich zur Seite zu rollen und zu retten.“ Der mutmaßliche Täter, der aus Eritrea stammen soll, konnte zunächst entkommen. Er wurde aber von Passanten verfolgt; die Polizei konnte ihn schließlich außerhalb des Bahnhofs festnehmen. Nach der Tat kündigte Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) an, seinen Urlaub zu unterbrechen, um eine Krisensitzung der Sicherheitsbehörden zu leiten.

Was verleitet jemanden zu so einer solchen Attacke? Diese Frage stellen sich nun auch die Ermittler. „Es gibt keinerlei Anhaltspunkte, dass Täter und Opfer sich kannten“, sagte eine Polizeisprecherin. Ähnlich war es auch bei einem zweiten Fall am Samstag voriger Woche: Am Bahnhof Voerde (Nordrhein-Westfalen) wurde eine 34 Jahre alte Mutter vor einen Regionalzug gestoßen und starb. Der 28-jährige Tatverdächtige, der sich der Frau wortlos von hinten genähert haben soll, sitzt wegen Mordverdachts in Untersuchungshaft. Auch hier kannten sich Täter und Opfer den Ermittlungen zufolge nicht.

Was könnte also das Motiv sein? Anruf bei Christian Lüdke, Kriminalexperte und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut aus Essen: Man könne natürlich nur spekulieren, aber oft entwickelten sich solche Taten aus Frust, Wut, Angst oder dem Gefühl, alles verloren zu haben, sagt er. „Das führt zu einem Ohnmachtsgefühl. Durch die Gewaltausübung verwandelt sich diese Ohnmacht in ein Gefühl der Allmacht.“

Im Bruchteil einer Sekunde könne die Stimmung kippen und so eine Attacke auslösen, sagt Lüdke. „Der Affekt ist die Mutter aller Gewalttaten, sagt man in der Kriminalpsychologie.“ Vielleicht sei der Tatverdächtige nicht einmal mit dem Plan zum Bahnhof gegangen, jemanden zu töten. Aber der Psychologe sagt auch: „Niemand wird über Nacht zum Mörder. Das ist immer der Abschluss einer langen gestörten Entwicklung.“

Eine Patentlösung für mehr Sicherheit an deutschen Bahnsteigen sieht Thomas Kraft vom Fahrgastverband Pro Bahn Hessen nicht. „Ich weiß keinen Rat. Man kann so etwas nicht hundertprozentig verhindern“, sagt er. An größeren Bahnhöfen wie dem Frankfurter Hauptbahnhof gebe es sogar noch vergleichsweise viel Aufsichtspersonal. An kleinen Bahnhöfen oder Haltepunkten könne letztlich auch jemand aus einer Hecke hervorspringen und Reisende auf die Gleise stoßen.

Auch Konzepte wie etwa für größere Bahnhöfe in England oder Frankreich, wo Bahnreisende oft nur mit einem Ticket oder erst nach Einfahren des Zugs auf den Bahnsteig gelangen, bringen Kraft zufolge keine völlige Sicherheit. Potenzielle Täter kämen dort eben mit einem Kurzstrecken-Ticket für wenig Geld auf den Bahnsteig. Bei kurzen Zug-Aufenthalten sei es zudem zeitlich kaum machbar, die Reisenden erst nach Einfahren des Zugs an die Gleise zu lassen. „Eine Lösung des Problems ist auf jeden Fall nicht kurzfristig zu finden.“

Müssen wir uns jetzt also fürchten an Bahnsteigen? „Jetzt Angst zu haben oder sich unsicher zu fühlen, wenn ich am Gleis stehe, ist völlig normal“, sagt Angstforscher Lüdke. „In der Psychologie sagt man, die Summe aller Ängste bleibt immer gleich bei uns Menschen.“ Was das bedeute? Es gebe immer ein konstantes Angstniveau. Was sich ändere sei dagegen die Richtung oder die Objekte. „Mal haben wir Angst vor Jobverlust, mal vor einem Terroranschlag oder mal davor, dass der Partner sich trennt.“

Wenn nun durch die beiden aktuellen Ereignisse unsere Aufmerksamkeit auf die Gefahr an Bahnsteige gelenkt werde, sei das nicht ungewöhnlich. „Dann sind wir vielleicht eine Weile in einer Schonhaltung und besonders aufmerksam, wenn wir am Gleis stehen. Aber irgendwann denken wir nicht mehr daran und das ist auch gut so.“

(dpa)
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