Seniorenheime: Wie alte Menschen ruhiggestellt werden

Seniorenheime in Deutschland geraten in die Kritik. Mutmaßlich in großem Stil werden dort Psychopharmaka verabreicht.

Seniorenheime: Wie alte Menschen ruhiggestellt werden
Foto: dpa

Berlin. Jeder Besucher eines deutschen Pflegeheims kennt die Szene: Viele Bewohner sitzen auf dem Flur, im Aufenthaltsraum, schweigsam, teilnahmslos. Die meisten sind dement. Doch die beklemmende Stille hat in vielen Fällen einen anderen Grund: Die alten Menschen werden mit Psychopharmaka ruhiggestellt. „Ich habe bei meiner Mutter erlebt, dass sie tagelang im Rollstuhl hing und mich nicht mehr erkannt hat“, sagt Lothar Oehlen aus Fürth, Gründer des „Angehörigen-Stammtischs Franken“.

„Ich habe dann zum Personal gesagt: ‚Ich bringe meine Mutter zum Bluttest. Und wenn Psychopharmaka nachgewiesen werden, dann rollen Köpfe.‘“ Das Ergebnis der Drohung: „Die Medikamente wurden abgesetzt, sie wurde lebhafter und sie hat mich wieder erkannt.“

Viele Familien werden in den Pflegeheimen Zeugen ebenso rätselhafter wie leidvoller Veränderungen: Beim Einzug ins Pflegeheim sind Vater oder Mutter zwar vergesslich, aber noch lebhaft und ansprechbar. Wenige Wochen später sind sie passiv, verwirrt und starren reglos ins Leere.

Doch wer die weitschweifigen Prüfberichte der kommunalen Heimaufsichten liest, findet zu dem Thema in aller Regel nichts. „Das ist ein riesiges schwarzes Loch“, sagt Reinhard Leopold, Gründer der Selbsthilfegemeinschaft „Angehörige und Ehrenamtliche in der Heimmitwirkung“ in Bremen. „Das wird totgeschwiegen.“ Häufig verabreicht werden Valium, Schlaftabletten, aber auch Mittel, die für Psychosepatienten und seelisch Kranke gedacht sind und den Effekt einer chemischen Keule haben.

Der Münchner Heimaufsicht und dem Münchner Amtsgericht ist es zu verdanken, dass nun von Behördenseite ein wenig Licht in das Dunkel kommt. Die Zahlen aus der bayerischen Landeshauptstadt: 51,28 Prozent der Bewohnerinnen und Bewohner bekamen demnach bei einer Stichprobe im Jahr 2011 Psychopharmaka verordnet.

Doch das ist nicht alles: In vielen Heimen wird das Gesetz offensichtlich routinemäßig ignoriert. Demente Heimbewohner haben in der Regel einen Betreuer. Wenn Medikamente nur verabreicht werden, um einen alten Menschen ruhigzustellen — ohne dass eine Heilung in Sicht wäre — dann zählt das ebenso wie eine Fesselung („Fixierung“) an Bett oder Stuhl als „freiheitsentziehende Maßnahme“ und muss deswegen von einem Richter genehmigt werden.

„Bisher gingen beim Amtsgericht München solche Anträge nur in einer verschwindend geringer Zahl ein“, heißt es dort. Das Gericht hat nun vor wenigen Wochen die „Initiative München“ gestartet, um die massenhafte Verschreibung der problematischen Psychopharmaka zu reduzieren.

Verlässliche landes- oder gar deutschlandweite Studien gibt es nicht. Ähnliches werde aus dem gesamten Bundesgebiet berichtet, heißt es im Gesundheitsministerium in München. „Valide Daten sind allerdings nicht bekannt.“

Doch dass die bayerische Landeshauptstadt in Sachen Psychopharmaka einen beklagenswerten statistischen Ausreißer darstellt, glaubt niemand, der sich mit der Materie beschäftigt. „Das ist überall gleich“, sagt Pflegekritiker Oehlen. Der Gütersloher Gerontopsychiater Bernd Meißnest schätzte nach einem Bericht des Gesundheitsportals „onmeda“ im vergangenen Dezember, dass 40 Prozent der Altenheimbewohner in Deutschland Psychopharmaka verabreicht bekommen.

Pflegeintiativen nennen einen einfachen Grund, warum so viele alte Menschen chemisch ruhiggestellt werden: Verwirrte Heimbewohner sind oft unruhig, ängstlich oder aggressiv, murmeln vor sich hin, wandern über die Flure, legen sich in fremde Betten, durchwühlen Schränke, schmieren sich mit Exkrementen ein.

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