Schläge, Angst, Missbrauch: ein ehemaliges Fichtenhain-Kind erzählt

Heinz Laumen wuchs in Heimen auf. Fichtenhain war die letzte von vielen Stationen des Leidens. Sexueller Missbrauch und brutale Schläge verfolgen den 62-Jährigen.

Krefeld. „Ich hatte keine Kindheit — nur Angst“, sagt Heinz Laumen. Kindheit und Jugend verbrachte er in verschiedenen Kinderheimen — darunter auch Fichtenhain. Der 62-Jährige ist eines von vielen Kindern, die von 1945 bis 1970 unter der Schwarzen Pädagogik in dieser Zeit litten (die WZ berichtete) und auch noch heute leiden. „Die Heime haben mein Leben zerstört“, sagt Laumen.

Seine Leidensgeschichte beginnt 1948. Mutter und Vater haben sich getrennt. Im Alter von acht Monaten kommt Laumen in ein Heim in Mönchengladbach. Die ersten Jahre seiner Kindheit sind von grausamen Erziehungsmethoden und Gewalt geprägt. „Wir mussten stundenlang in Reihen auf dem Töpfchen sitzen, Schläge gab es für jede Kleinigkeit und Erbrochenes mussten wir wieder aufessen“, erinnert sich Laumen. Als er „für das Heim nicht mehr tragbar war“, kommt er in das Don Bosco-Kinderheim in Viersen.

Als Zehnjähriger lebt er ein Jahr bei der Mutter, die er kaum kennt und die sich nicht um ihn kümmert. „Sie war für mich wie eine Tante“, sagt er. 1959 habe das Jugendamt beschlossen, dass er zu Hause verwahrlose und eine strengere Erziehung brauche. „Eines der strengsten Heime war damals das Hermann-Josef-Haus in Urft.“ Drei Jahre und drei Monate verbringt er in der katholischen Einrichtung. „Da begann der sexuelle Missbrauch“, sagt Laumen.

Bei einem Fußballspiel bekommt der Elfjährige einen Ball in den Unterleib, daraufhin will ihn ein Pater untersuchen. „Er wollte das mit einer Massage der Hoden beheben“, erinnert sich Laumen. „Ich saß auf seinem Schoß und er rieb sein Geschlechtsteil an mir.“ Dabei blieb es nicht. Der Pater habe den Kindern immer Süßigkeiten gegeben, die sie sich aus der Tasche seines Gewands holen mussten. „Da war ein Loch drin, da hatten wir dann keine Süßigkeiten in der Hand“, sagt Laumen.

Die Annäherungen des Paters findet Laumen zunächst nicht befremdlich. „Ich dachte, das müsste so sein“, erinnert er sich. „Ich war neun Jahre im Heim und kannte keine Liebe, da kommt so ein Pater und streichelt mich und ich denke, der ist aber nett.“ Zuwendungen wie Süßigkeiten oder frisches Obst kennt der Elfjährige nicht. „Dann sagt er, komm zu mir in die Beichte und krabbel mir zwischen den Beinen rum. Sein Stöhnen bekomme ich bis heute nicht aus dem Kopf.“

1962 beginnt Laumen eine Metzgerausbildung in Mönchengladbach, die er wegen Diebstahlsvorwürfen beendet. Vorbestraft kommt er in seine letzte Heimstation: Fichtenhain. „Das war genauso schlimm wie Urft“, sagt der 62-Jährige. Zunächst setzt er seine Ausbildung bei einem Metzger in Willich fort, die aber nur einige Monate dauert. „Ich habe da immer rumgestreunt“, erinnert sich Laumen. Wenn er auf dem Nachhauseweg trödelt — was er gerne macht —, wird er in eine Zelle eingesperrt. „Das war ein kleiner Raum mit Steinboden, einer dünnen Matratze und einem Eimer für die Notdurft.“

Gewalt ist in Fichtenhain normal. „Ein Erzieher wurde mal jähzornig und rabiat. Da hat er mir den Schlüsselbund aufs Ohr geschlagen“, sagt Laumen. Die Nerven in seinem Ohr sind seither geschädigt und er leidet an Hörverlust.

Nach Fichtenhain beendet er seine Ausbildung als Metzger. 1970 lernt er seine Frau Hannelore in Berlin kennen. Ein Jahr später kommt das erste Kind zur Welt, später bekommt das Paar Zwillinge. Jahrelang verdrängt Laumen seine Vergangenheit. Doch seine Kindheit wirkt sich auf das Familienleben aus. „Ich kann keine Liebe geben“, sagt Laumen. Wenn er beispielsweise seine Kinder mit seinen Enkelkindern liebevoll umgehen sieht, denkt er sich: „Warum habe ich das nicht erlebt?“

2004 bricht er sein Schweigen. „Da habe ich von einem sexuellen Missbrauch in einem Verein erfahren. Ich kannte Täter und Opfer.“ Seit etwa einem Jahr macht Laumen nun eine Psychotherapie. „Das Reden darüber hilft mir. Dann fällt es danach weg.“ Verbergen will er sich nicht, seine Geschichte möchte er auch öffentlich erzählen. „Ich will, dass sich noch mehr Kinder melden.“ Was er noch will: „Ich möchte eine Entschädigung für die Zeit im Heim.“

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