Prozessbeobachter: Blick in menschliche Abgründe

Heinz Neulen geht jeden Tag ins Gericht. Der Rentner beobachtet Prozesse aus Leidenschaft.

Aachen. Heinz Neulen ist die personifizierte Exaktheit. Er spricht artikuliert, druckreif, er gerät nicht ins Plaudern. Für das Gespräch hat er sich die Zeit mühsam abgerungen. Denn eigentlich beobachtet er am Landgericht Aachen einen Betrugsprozess, in dem ein Jurist auf der Anklagebank sitzt. Es wird auf hohem Niveau argumentiert. Da geht einem das Herz auf, zeigt sich Neulen beeindruckt von der zähen Antragsschlacht der Verteidigung.

Neulen gehört zur Spezies der Prozessbeobachter. Das sind in der Regel unauffällige, ältere Herren auf den hinteren Bänken in deutschen Gerichtssälen. Sie verpassen bei bedeutenderen Prozessen möglichst keinen Verhandlungstag, kennen Staatsanwälte und Verteidiger, haben ihre Meinung zu den Richtern, schauen in die Abgründe des menschlichen Daseins, verfolgen persönliche Dramen und haben eine dezidierte Meinung zu den Urteilen.

Und sie sind Teil der Öffentlichkeit, die in Deutschland grundsätzlich in Strafverfahren und bei erwachsenen Angeklagten zugelassen ist. Jedermann kann die Verhandlungen beobachten. Das soll die Parteien vor willkürlichen Entscheidungen absichern. Publikumsandrang gibt es aber oft nur beim Verhandlungsauftakt und beim Urteil. Anders die Freaks, die kommen immer.

Als Pharmazeut hat der Aachener Neulen an einer Universität und bei Unternehmen gearbeitet. Seinen Lebensgrundsatz „Hart in der Sache und verbindlich zum Menschen“ streut der alte Lateiner mal ganz nebenbei ein. Prozesse sind für ihn auch immer eine Auseinandersetzung mit den Menschen: Warum verrohen sie, warum verwahrlosen sie — und andere in vergleichbar schlechten Lebenssituationen eben nicht? Was macht sie letztlich hemmungslos?

„Gericht, das ist für mich ein Seniorenstudium ohne feste Fakultät“, sagt Neulen. Nie habe er in seinem Leben so viel gelernt, wie in den Verhandlungen: Jura, Forensik, Psychologie, das Spektrum ist weit. Seine Wahrnehmung hat sich verändert. Die Geschichten der Angeklagten, die Zusammenhänge bei der Tat, die Einordnung der Gutachter — all das zeigt Wirkung.

„Ich gehe mit einem anderen Menschenbild durch die Welt“, bekennt er in der betriebsamen Cafeteria des Aachener Justizzentrums. Mittlerweile ist er davon überzeugt, dass jeder Mensch zu einer Bluttat fähig ist. Sich selbst schließt er dabei nicht aus. Noch nach Jahren hat er das Bild von dem kreuzbraven Familienvater vor sich, der seine abtrünnige Frau vor den Augen seiner Kinder erschlug. „Jeder Mensch hat beide Seiten“, sagt Neulen.

Auch das ist eine Erkenntnis: „Mörder entsprechen nur selten einem Klischee.“ Neulen fragte mal einen ganz normalen Zuschauer, warum er im Gericht sei. Er wolle mal sehen, wie ein Mörder aussieht, habe der gesagt. „Der sieht aus wie du und ich“, sei seine Erkenntnis.

Was Neulen an Prozessen fasziniert, ist ganz weit weg von der Sensation. Es war immer die sachliche Auseinandersetzung, die Argumentation, das Ringen um eine prozessuale Wahrheit. Und: „Die Atmosphäre gefiel mir.“ Eigentlich hatte er damals auch Jurist werden wollen, entschied sich dann aber für die Pharmazie.

Seine Urlaube plante er schon während seines Berufslebens nach den Terminen der großen Prozesse am Aachener Landgericht. Während Kollegen in die Sonne fuhren, saß Neulen im Gericht. Jetzt, in seinem Rentneralltag, geht er ganz in seinem Hobby auf.

Ihm stehen stramme Monate ins Haus. In einem Plausch hat ihm der Richter der Schwurgerichtskammer — die Kammer für Mord und Totschlag — einen kleinen Ausblick gewährt: bis November vier Tage die Woche Verhandlung. Der Kalender ist voll. Zum ersten Mal huscht ein Lächeln über Neulens Gesicht.

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