Köln NSU-Anschlag in Kölner Keupstraße: Die Wunden sind noch nicht verheilt

Auch 14 Jahre nach dem Anschlag mit einer Nagelbombe in der Kölner Keupstraße sind die Wunden noch nicht verheilt. Das NSU-Urteil ändert daran nichts.

Köln. Zwischen der Eisdiele „Saraceno“ von Antonio Merlo und dem Kiosk von Mitat Özdemir erstrecken sich im rechtsrheinischen Kölner Stadtteil Mülheim 800 Meter Keupstraße. Bis zu beiden Orten drang die Wucht der Explosion am 9. Juni 2004, obwohl die Nagelbombe ziemlich genau auf der Hälfte der Strecke platziert war. Von beiden Orten hatten sich gerade die Söhne der Betreiber auf den Weg gemacht, der eine zum Friseur, der andere, um Essen zu holen. Und an beiden Orten begannen nun Minuten des Bangens, ob die Jungs heil wieder zurückkehren würden.

Sie taten es — auch wenn Özdemirs Sohn nur wenige Augenblicke vor der Explosion an dem Rad mit der Bombe im Hartschalenkoffer auf dem Gepäckträger vorbeigeradelt war. Die Frage, was passiert wäre, wenn er den Moment erwischt hätte, in dem 5,5 Kilogramm per Fernsteuerung entzündeten Schwarzpulvers rund 800 Metallnägel quer über die Straße jagten, mehr als 30 Fensterscheiben zum Zersplittern brachten und 22 Menschen zum Teil schwer verletzten, diese Frage quält Özdemirs Frau noch heute, 14 Jahre später.

Nur eine von vielen Wunden, die noch lange nicht verheilt sind in dieser Straße, die wie keine andere in Köln symbolisch für all das steht, was sich mit dem Thema Migration verbindet. Wer die Menschen hier fragt, was sie von dem Urteil im NSU-Prozess am Mittwoch erwarten, dem antworten sie in Bildern. „Das ist, als würde man einen Pilz aus der Erde ziehen“, sagt einer der Geschäftsleute, denen die Explosion damals den ganzen Laden zerstört hat. Was er damit meint: Das unterirdische Geflecht bleibt. Özdemir äußert sich ähnlich: „Die Bedeutung des Urteils liegt nicht bei null. Aber die große Wurzel ist noch da. Der Baum des Rechtsextremismus kann jederzeit wieder blühen.“

Bei dem Nagelbombenanschlag am 9. Juni 2004 wurden 22 Menschen verletzt, vier davon schwer. Foto: dpa

Özdemir ist heute 70. Vor 52 Jahren kam er aus Anatolien nach Deutschland. Er hat hier studiert und als Ingenieur gearbeitet, im Großhandel und in der Immobilienbranche, im Reisebüro und zehn Jahre als Jugendsozialbetreuer. „Ich verdanke diesem Land viel.“ Umso größer ist seine Enttäuschung. Als ab November 2011 klar wurde, dass die Terroristen des Nationalsozialistischen Untergrunds neben zehn Morden auch für den Anschlag in der Keupstraße verantwortlich waren, lagen schon sieben Jahre der äußeren Angriffe und der inneren Zerstörung hinter den Bewohnern.

Friseur Özcan Yildirim will sich im Moment nicht mehr äußern. Vor seinem Geschäft war 2004 die Bombe explodiert. Sechsmal musste er anschließend zum Verhör antreten. Irgendwann glaubten auch die türkischen Nachbarn, er müsse etwas mit der Sache zu tun haben. Racheakt, Drogenmafia, Schutzgelderpressung, türkisch-kurdischer Konflikt — Spekulationen gab es viele. Nur auf einen terroristischen Hintergrund deute nichts hin, hatte Bundesinnenminister Otto Schily schon kurz nach dem Anschlag erklärt. Dabei hatten Anwohner und Betroffene wegen der Nagelbombe bereits früh an rechte Täter geglaubt. „Für so eine Tat hätte sonst niemand in seinem Milieu Beifall bekommen“, sagt Peter Bach.

Mitat Özdemir (l.) und Peter Bach vor dem Ladenlokal, an dem vor 14 Jahren das Fahrrad mit der Bombe abgestellt worden war. Foto: Ekkehard Rüger

Bach ist 70 wie Özdemir. 13 Tage nach dem Anschlag habe das linke Bündnis „Mülheim gegen Rechts“ ein Flugblatt mit der These von den rechten Tätern veröffentlicht. Viele der damaligen Vermutungen bestätigten sich im Nachhinein. Aber in der Folge, erinnert sich Bach selbstkritisch, „haben wir der Keupstraße nicht beigestanden. Es wurden keine Beziehungen geknüpft. Wenn es Ziel des NSU war, dass die Deutschen auf Distanz zu den Migranten gehen, dann hat er es auch bei uns geschafft.“

2011, nach den Enthüllungen über den NSU, holte Bach Versäumtes nach mit der Gründung der Initiative „Keupstraße ist überall“. Zu dem Zeitpunkt war Özdemir Vorsitzender der „IG Keupstraße“, in der die über hundert Geschäftsleute der Straße zusammengeschlossen sind. Beide sind heute befreundet — und kämpfen gemeinsam dagegen an, dass mit dem Urteil die Spätfolgen des Terrors für das deutsch-türkische Zusammenleben unter den Teppich gekehrt werden.

Es sind ja nicht nur die Jahre der falschen Verdächtigungen, der Zwietracht, die von den Ermittlern innerhalb der türkischen Community gesät wurde. Es ist nicht nur die Erinnerung an verstärkte Finanzprüfungen bei den türkischen Geschäftsleuten und die Instinktlosigkeit, mit der wenige Tage nach dem Anschlag Flyer in der Straße verteilt wurden, die vor dem Abgleiten junger Muslime in den Extremismus warnten. Es ist auch all das, was bis in die Gegenwart noch folgte: Beschneidungsdebatte, Kopftuchdebatte, Özil-Debatte. „Ich hatte das Gefühl, die Straße schützen zu müssen, aber ich wusste nicht, wie“, sagt Özdemir. „Man hat auf uns mit dem Finger gezeigt wie auf ein Geschwür.“ Hier die Deutschen, da die Türken — und als Folge einer immer stärker betonten Trennung jede Menge Phantomschmerzen.

Die Besuche der Politiker, die verspätete und auch etwas schuldbewusste Solidarität der Kölner samt der kölschen Birlikte-Glückseligkeit sind inzwischen wieder verebbt. Geblieben ist die Notwendigkeit, die Menschen in der Keupstraße „ohne großes Tamtam zu betreuen“, wie Özdemir glaubt. Immer mal wieder besucht er den inzwischen ins Hinterhaus abgewanderten Friseursalon von Özcan Yildirim und dessen Bruder, um einfach nur zuzuhören: der Verbitterung, der Wut, der Verzweiflung.

Denn Özdemirs größte Sorge gilt dem diffusen Hass, der sich breitmacht innerhalb der türkischen Gemeinschaft angesichts eines als aussichtslos empfundenen Bemühens um Anerkennung. Auch deshalb kämpft die Keupstraße so um das geplante Denkmal des Berliner Künstlers Ulf Aminde.

Wenn Mittwochmittag parallel zur Münchener Urteilsverkündung in der Keupstraße an der Ecke Genovevastraße ein Programm mit Liveschaltung nach München geboten wird, soll auch ein Banner aufgespannt sein: „Umkämpfte Erinnerungen — Wir fordern einen Ort“, ist darauf zu lesen, daneben die Hashtags #keinSchlussstrich und #MahnmalKeupstraße.

Denn um den 2016 einhellig von einer Jury aus Anwohnern und Kunstsachverständigen prämierten Entwurf ist ein Konflikt zwischen Stadt und Grundstückseigentümer entstanden. Die interaktive Installation sollte auf einem Eckgrundstück nahe dem Tatort entstehen. Doch dort ist eigentlich eine Bebauung geplant — und der Eigentümer sieht sich von der Stadt schlecht informiert und will nicht in die Rolle des „Buhmanns“ geraten.

„Es wäre eine große Enttäuschung, wenn das Denkmal nicht käme“, glaubt Özdemir. „Und auch, wenn es noch lange dauert.“ Er will sich jetzt in die Verhandlungen einklinken. Eine weitere Wunde kann die Straße nicht gebrauchen.

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