NRW kauft 22 Hessen frei

Der ewige Grenzstreit um ein Dörfchen im Sauerland ist beigelegt.

Brilon. Für 22 Menschen aus dem hessischen Örtchen Diemelsee-Stormbruch erfüllt sich in wenigen Wochen ein sehnlicher Wunsch - sie müssen nicht mehr länger Hessen sein, sondern sind dann das, was sie schon immer mit dem Herzen waren: Westfalen. Der Düsseldorfer Landtag hat jetzt grünes Licht für den Staatsvertrag zwischen den Ländern Nordrhein-Westfalen und Hessen zur Grenzverschiebung in dem kleinen Stück Sauerland gegeben. Dann steht der "Wiedervereinigung" mit dem 500 Einwohner zählenden NRW-Dorf Brilon-Bontkirchen, von dem die Neu-NRWler durch den Grenzfluss Itter getrennt wurden, nichts mehr im Wege. Kostenlos ist der NRW-Landgewinn nicht: 390 000 Euro waren als "Ablöse" für sechs Wohnhäuser, eine Wirtschaft, ein Sägewerk, Schützenhalle, Sportplatz und wegfallende Zuschüsse fällig.

"Für die Berliner Mauer haben die nicht mal 30 Jahre gebraucht und hier, das sind doch Peanuts, und trotzdem dauert das schon Jahrzehnte", lästert Bontkirchens Ortsvorsteher Albert Brüne (CDU) über die "schwere Geburt." Er kennt auch die Ursache für den Grenzstreit. "Bei uns im Dorf gab es keine Bauplätze mehr. Da haben einige am anderen Ufer der Itter auf geerbten Grundstücken gebaut."

Wirtin Maria Lange fühlte sich stets als "Zwangs-Hessin". "Wir hatten doch mit denen nichts zu tun. Nur Steuern haben wir da gezahlt", sagt die 77-Jährige, die seit 50 Jahren im hessischen Teil von Bontkirchen lebt. Als vor einiger Zeit ihrer Gastwirtschaft der Strom ausfiel, rief sie bei der hessischen RWE an - "die Nummer steht schließlich auf meiner Rechnung". Doch dort fühlte sich niemand zuständig, berichtet die "Westfalenpost". Schließlich kommt der Strom über die westfälischen Leitungen zu ihr. Die Westfalen hingegen lehnten ebenfalls erstmal ab - schließlich wohnen die Kunden doch in Hessen... "Da könnte man verrückt werden”, schimpft Maria Lange.

Ihre Nachbarin Marion Vogtland hat ganz ähnliche Probleme mit ihrer Post. "Wenn Briefe mit der - eigentlich korrekten - hessischen Adresse geschrieben werden, wandern die zu erst einmal zwischen Hessen und NRW hin und her. Die Briefe kommen dann schließlich zwei bis drei Tage später an", ärgert sich Marion Vogtland.

"Die Menschen hier werden in NRW geboren, gehen in NRW zur Schule, ins Krankenhaus und sie werden auch auf dem Friedhof in NRW beerdigt", sagt Brüne. Außer Steuern zahlen und unnötigen Behörden-Laufereien verbinden die 22 hessischen Bontkirchener nichts mit "ihrem" Bundesland. Für den Besuch der Briloner Schulen müssen bisher Anträge gestellt werden, die Autos jenseits des Grenzflüsschens hatten ein anderes Nummernschild und die Müllabfuhr kommt auch an einem anderen Tag. Und wahlmüde waren die hessischen Bontkirchener bisher auch. Denn Kommunal- und Landespolitik in Diemelsee und Wiesbaden hat sie nie interessiert. Alles Kleinigkeiten, die in der Summe aber das Leben erschwert haben.

Was die Politik lange nicht geschafft hat, hatte die Telekom schon lange im Griff. Denn die hessischen Exil-Westfalen bekommen nicht nur Strom und Wasser aus Bontkirchen, auch die Telefone laufen über das Vorwahlnetz von Brilon. Mit im Ernstfall nicht ganz ungefährlichen Folgen, erzählt Abiturientin Anika Vogtland: "Hier war mal ein schwerer Unfall, da wurde der Notruf zur NRW-Leitstelle nach Meschede durchgestellt. Die sagten dann, sie seien nicht zuständig, da muss der Rettungsdienst aus Diemelsee ausrücken."

Mal scheiterte das Vorhaben am Desinteresse des Bürgermeisters in Brilon, mal am Widerstand des in Hessen zuständigen Stadtoberhaupts von Diemelsee. "In den 1990er Jahren hat der hessische Bürgermeister gesagt: Ich tausche doch keine Menschen gegen Bäume", erzählt Ortsvorsteher Brüne. Damals hatte Brilon als Ersatz für die etwa 180 000 Quadratmeter ein Stück Wald angeboten. Jetzt wurden die "Zwangs-Hessen" freigekauft. Brilon hat 390 000 Euro als Ersatz für die Schlüsselzuweisungen an die hessische Nachbar-Kommune überwiesen.

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