Nase voll vom „goldenen Käfig“: Wie ein Kind kriminell wird

Mit zehn Jahren richtet David erste Sachbeschädigungen an. Mit 16 sitzt er in Untersuchungshaft. Eine Abstiegschronik.

Krefeld. "Ich hab’s mir schlimmer vorgestellt", eröffnet David (16 Jahre und drei Monate alt) seiner Mutter, als sie ihn im Düsseldorfer Jugendknast besucht. Seit mehr als vier Wochen sitzt der hochgewachsene Junge in Untersuchungshaft. Er gehört zum zehnköpfigen Kern einer Bande von besonders brutalen "Abziehern", bei denen der Jugendrichter kein Pardon mehr kannte.

David (alle Namen von der Redaktion geändert) kommt aus dem noblen Krefelder Stadtteil Traar. Er hat eine kleine Schwester, die bald 14 wird. Sein Vater, ein frühpensionierter Polizeibeamter, verkauft heute Versicherungen in Mecklenburg-Vorpommern. David ist ein "Scheidungskind", sechs Monate nach seiner Geburt ist die Ehe annulliert, Iris D. ist seitdem alleinerziehend. Sie war Unternehmerin, fuhr ein schnelles Auto, konnte sich beinahe alles leisten. Das alles gibt es nicht mehr. Heute dolmetscht sie für Ermittlungsbehörden und Wirtschaft.

Weihnachten 2005 deklariert David für sich die große Freiheit. "Ich will raus aus deinem goldenen Käfig." Bereits früher hatte er erklärt: "Im Heim ist es besser als hier." Er hat Kumpels, die in Erziehungsanstalten in der Innenstadt leben, weit weg von Traar. Man klaut, raubt, bricht ein. Anfangs reicht David der Joint aus "Gras", später müssen es Mode-Drogen sein.

Seine Schwester glaubt, dass er auch auf Crack ist. Die Klassenkameraden in ihrer Hauptschule, so verrät das Mädchen, "finden es ganz cool, dass mein Bruder im Knast sitzt". Während des Besuchs im Jugendvollzug streichelt sie seine Arme. Die Schwellung am Auge durch die Kollision mit einem Polizisten nach der Festnahme ist nicht mehr zu sehen. Über der Oberlippe des 16-Jährigen dünner dunkler Flaum. Ein Onkel von David ist Polizist, und ein anderer, der ihn früher einmal festgenommen hat, war sein Kampfsportlehrer.

"Er war zehn, als es losging", erinnert sich die Mutter. "Auf dem Traarer Golfplatz zertrümmerte David mit anderen Kindern aus Spaß gläserne Wegweiser. Jeder einzelne hat 600 Euro gekostet". In einer Hausruine an der Traarer Landstraße entdeckt David gefüllte Spritkanister. Es brennt. Daheim wundert sich Iris D. über den Benzingeruch im Wäschekorb. Die Jeans hätte er besser mit ins Feuer geworfen. Denn trotz aller Mutterliebe möchte Iris D., dass ihr Sohnemann für das gerade stehen muss, was er getan hat. "Ich habe frühzeitig versucht, Jugendamt, Polizei und Justiz zu bemühen. Passiert ist leider nichts."

Zu Beginn seiner kriminellen Karriere war David keine 14, nicht strafmündig. Die Verfahren wurden eingestellt. Er ist nie rechtskräftig verurteilt worden. Es müsste früher eingegriffen werden, denkt die Mutter. "Wie oft habe ich Behörden gesagt, packt meinen Sohn härter an."

Jetzt packt Iris D. aus. "Als David als 13-Jähriger aus dem ,goldenen Käfig’ ausgebrochen ist, habe ich Vermisstenanzeige erstattet. Ich habe der Polizei gesagt: ,David ist bei dem und dem Dealer in der und der Straße. Sie haben nicht nachgeschaut. Ich habe nachts im Wagen vor dem Haus gewartet." Eines Nachts klingelt bei Iris D. das Telefon. Ein Polizeibeamter teilt mit, dass sie ihren Sohn auf der Polizeiwache in Venlo abholen möge. Sie fährt hin und wird von ihrem Sprössling nicht erkannt. Das Hirn ist drogenumnebelt.

"Ich bin mit Tempo 30 auf der Autobahn zurückgefahren. David wollte immer wieder aus dem Auto springen." Zwei Mal war er jeweils drei Wochen zum Entzug im Süchtelner Landeskrankenhaus, zwei Mal folgten Therapien. Beim dritten Mal flog er aus der Klinik, weil er sich nicht an die Regeln hielt. Vor einem dreiviertel Jahr hat sich Iris D. selbst in eine Therapie begeben. Schlaf findet sie nur noch mit starken Tabletten. Seit David eingesperrt ist, mehren sich die Konflikte mit der Tochter. Die zieht es gerade auch weg aus dem "goldenen Käfig". Von Überforderung der Mutter zu reden, wäre zu simpel. David ist kein Einzelfall, Vergleichbares geschieht in Westeuropa seit Mitte der 60er Jahre. Der Politik ist dazu nichts rechtes eingefallen.

Der Besuch im Düsseldorfer Jugendknast eskaliert. David sagt, er werde keinen seiner Kumpels verpfeifen, er sei doch "keine Ratte". Erst in der Hauptverhandlung vor der Jugendkammer werde er aussagen. Ein richtiger Prozessstratege, dieser 16-Jährige. Die Justizwachtmeisterin ermahnt ihn mehrfach, bei der deutschen Sprache zu bleiben. David ist bilingual erzogen worden. Wenn man reden kann, was andere nicht verstehen, ist man besonders cool. Dass seine Mutter während ihrer Arbeit auf ihn angesprochen wird, ärgert ihn weniger als ihre Versuche, von den ihr gut bekannten Kripobeamten mehr über seine Taten zu erfahren, als es in den Akten steht.

So "geil", wie David vorgibt, den Knast zu finden, ist dieser wohl doch nicht. Im Besucherraum wird der Junge rotzfrech, eine Folge auch des Stresses. Mutter und Schwester gehen vorzeitig. Weihnachten und Silvester muss der 16-Jährige hinter Gittern feiern - ohne Zigaretten, Alkohol, sonstige Drogen oder Handy. Schicke, bedruckte Klamotten darf er auch nicht tragen - nur die schlichten T-Shirts der Anstalt. Zwölf Euro in Münzen sind als Mitbringsel erlaubt - für alkoholfreie Getränke. Iris D. macht sich über die Zukunft keine Illusionen: "Wenn er sich jetzt nicht fängt, bin ich den Jungen für immer los."

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