Krimis kommen nicht ins Regal bei Deutschlands ältester Buchhändlerin

Helga Weyhe ist mit ihren 90 Jahren die wohl älteste Buchhändlerin Deutschlands. Bestellte Ware liefert sie selbst aus.

Salzwedel. Zu Kunden in Laufnähe bringt Helga Weyhe die bestellten Bücher nach Haus. Die 90-Jährige schnappt sich dann ihren Gehstock und streift gemächlich durch Salzwedel. Der Gang durch die Stadt im nördlichen Sachsen-Anhalt bietet der Buchhändlerin Abwechslung zur Arbeit in ihrem Laden und hält sie auf Trab. Am Dienstag feiert Helga Weyhe ihren 90. Geburtstag.

Damit gilt sie laut dem Börsenverein des Deutschen Buchhandels als die älteste aktive Buchhändlerin Deutschlands. An den Ruhestand denkt die kleine zierliche Frau mit den kurzen grauen Haaren und der Brille am Band aber nicht. „Es kommen so nette Kunden“, sagt sie leise.

Gedrucktes bestimmte von Anfang an das Leben der Buchhändlerin. Schon ihr Großvater und ihr Vater führten das Geschäft. Helga Weyhe wurde in der Wohnung über dem Laden geboren. Hier lasen sie und ihre Schwester als Kinder Bücher, die ihnen ihr Vater gab, um zu erfahren, ob sie ihnen gefielen. So konnte er seine Kunden besser beraten.

Heute wohnt die kinderlose Dame allein in den Räumen, in ihren persönlichen Bücherregalen stehen Fontane, Heine, Goethe und Schiller. Jedes Buch, das sie in den Laden stellt, nimmt sie selbstverständlich zur Hand und liest es zumindest quer. „Ich will wissen, worum es in jedem Buch geht“, sagt sie.

Weyhe schaut regelmäßig die Kataloge mit den Neuerscheinungen durch und bestellt Exemplare. Die Fülle ist enorm, und so konzentriert sie sich auf Verlage, deren Programme ihr besonders gefallen. Krimis etwa stellt sie sich nicht ins Geschäft. Wer ein Buch bestellt, bekommt es selbstverständlich. „Es wird viel zu viel gedruckt“, urteilt die Buchhändlerin.

Wer vorbei an den großen Schaufenstern in den Laden kommt, geht über abgetretene, knarrende Dielen vorbei an Regalen aus dem Jahr 1880. Rund um einen Pfeiler in der Mitte des Raumes hat die Buchhändlerin das aktuelle Sortiment auf Tischen angeordnet. Viele Kinder- und Jugendbücher sind dabei. Besonders empfiehlt sie eine Neuauflage von Erika Manns „Stoffel fliegt übers Meer“.

Thomas Manns Tochter beschreibt die Reise eines Jungen als blinder Passagier in einem Zeppelin zu seinem reichen Onkel nach New York. Helga Weyhe erzählt, dass ihr der Vater dieses Buch schenkte, als sie zehn Jahre alt war. Das kleine Mädchen hatte damals auch einen Onkel in New York — ebenfalls Buchhändler. Oft träumte sie sich nach Amerika. Die tatsächliche Reise gelang ihr aber erst als Rentnerin.

Das Straßenschild mit der Aufschrift „794 Lexington Ave“ hängt heute an einem der Regale. Wer im Laden genau hinsieht, bemerkt auch, dass der Amerika-Kalender 2013 am Eingang auf Augenhöhe und über dem der Stadt Salzwedel hängt. Kein Zufall, sagt die Hausherrin. Ja, sie hätte sich anderes vorstellen können, als in dieser kleinen Stadt in der Provinz zu bleiben. In den letzten Kriegsjahren studierte sie in Breslau und Königsberg, kurz war sie auch in Wien, ging aber ohne Abschluss nach Hause zurück.

Sie ist zufrieden, hätte sich aber auch anderes vorstellen können: „An sich wäre ich gern Bibliothekarin geworden in einer Universitätsbibliothek.“ Sie hätte gern in einen Verlag hineingeschnuppert und in eine Druckerei.

Die Verpflichtung, den Laden der Familie zu führen, wog schwerer. Bis heute steht sie außer sonntags täglich — manchmal unterstützt von einer Mitarbeiterin — im Laden. Zwischen 13 und 15 Uhr legt sie eine Mittagspause ein, um sich auszuruhen.

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