"Herr Holle": Der Winter-Macher

Lucien Stephenson aus Ladbergen ist Herr Holle. Er zaubert Schnee in die Weihnachts- welt — und zwar bei jeder Temperatur.

Berlin. im Frühling 2001. Die Sonne scheint, die Bäume blühen, die Vögel zwitschern. Nur ein paar Schritte weiter herrscht tiefster Winter: Eisblumen zieren die Fenster der Häuser, von den Dächern wachsen Eiszapfen. Und dann kommen sie, die drei ergrauten Männer. Sie schleppen einen Christbaum durch das Szenario, vorbei an Autos und Büschen, die unter Schneebergen begraben liegen.

Alles Illusion. Der Dezember ist in Wirklichkeit ein Mai. Kunstschnee hat den Rüdesheimer Platz für das Kino-Drama „Epsteins Nacht“ mit Bruno Ganz und Mario Adorf in eine Winterlandschaft verwandelt. Schneemaschinen haben stundenlang ganze Sattelzug-Ladungen weißer Papierfetzen in den fiktiven Heiligabendhimmel geblasen.

Schnee-Imitat wie dieses stammt aus Ladbergen. In den 6000-Seelen-Ort im norddeutschen Tiefland verirrt sich eher selten eine Flocke. Aber die Gemeinde zwischen Münster und Osnabrück ist der Sitz eiskalter Geschäftemacher, die ihresgleichen suchen: Das Winter-Imperium „snow business“ von Lucien Stephenson ist weit und breit die erste Adresse für Kunstschnee.

Wenn Herr Holle die Betten ausschüttelt, schneit es überall auf der Welt. Der Winter aus Westfalen hat die Mode-Kollektionen von Ralph Lauren bis Esprit, die TV-Spots von Ferrero bis Tchibo oder auch T-Online fest im Griff. Fotografen, Designer, Museen schätzen Stephensons Kunst. Für die Olympia-Bewerbung Münchens im vergangenen Jahr wurde die komplette Allianz-Arena eingeschneit: stolze 12 000 Quadratmeter.

Ob cineastische Großproduktionen wie „Der Vorleser“ mit Oscar-Preisträgerin Kate Winslet oder TV-Weihnachtsfilme wie „Zwei Weihnachtsmänner“ (Sat.1) und „Bettis Bescherung“ (ARD, 23. 12., 20.15 Uhr) — der Brite war dabei. Er und sein Team kleben Zapfen aus Kunstharz und Wachs an Dachrinnen, streuen weiße Kunststoff-Körnchen über Ziegel. Sie beliefern Hollywood ebenso wie das deutsche Fernsehen.

Die Leidenschaft für den Schnee wurde vor 16 Jahren entfacht. In den Semesterferien heuerte der „European Business“-Student aus Dover mit 56 weiteren Technikern für Kenneth Branaghs Literaturverfilmung „Hamlet“ an. 200 Tonnen weißer Zellulose gingen auf Blenheim Palace, ein Schloss bei Woodstock, nieder. Stephenson war restlos begeistert.

Nach dem Examen 1999 kehrte Stephenson an die Stätte seiner Kindheit zurück — nach Osnabrück, wo er bei seiner englischen Mutter und dem deutschen Stiefvater aufgewachsen war. Noch im selben Jahr eröffnete er das einzigartige Winterreich. Der internationale Durchbruch im Film-Business gelang mit der verschneiten Anfangssequenz in Jean-Jacques Annauds Drama „Duell — Enemy at the Gates“ (2001).

Schnee hat viel mit Emotionen zu tun, findet der 43-Jährige. „Jeder wird an seine Kindheit erinnert.“ Oft reist er in die Berge und fängt mit der Kamera Effekte der Natur ein, um sie später zu imitieren. Generell, urteilt er selbstbewusst, sähe der echte Schnee eigentlich schlechter aus als seine Nachbildungen.

150 verschiedene Eis- und Schneesorten hat der Winter-Macher im Angebot, vom schimmernden Fantasy-Schnee mit Perlmutt-Effekt bis hin zum Frost-Puder für klirrend kalte Illusionen. „Wir führen mehr Eissorten, als die Eskimos Namen dafür haben.“

Ob kleine oder große Flocken, schnell oder langsam fallend — sie sind allesamt biologisch abbaubar. Die Ausgangsmaterialien sind reine Cellulose, Stärke und Kunststoff. Eiszapfen werden, täuschend echt, aus Kunstharz und Wachs gegossen.

Für weihnachtliche Privat-Gärten kramt Herr Holle eine verblüffende Schnee-Sorte aus seiner Winter-Wundertüte: Snow Cell, ein feines Cellulose-Pulver. „Es fühlt sich an wie Stärke und knirscht unter den Sohlen wie frische Flocken bei Kälte.“

Dauereinsatz im Deko-Wettkampf: Eingebettet in Stephensons glitzernde Landschaften wiegen Nikoläuse und Feen, Wichtel und Engel ihre Häupter. Nahezu jedes Schaufenster will derzeit die Anmutung einer heilen Welt vermitteln. „Der Markt ist riesig“, sagt der Effektspezialist.

Auch im Brühler Freizeitpark Phantasialand funkelt es dieses Jahr wieder gewaltig. China Town glänzt, als habe Diamantenstaub das Reich der Mitte berieselt. Für das festliche Highlight inmitten vereister Pagoden und Tempel ist — natürlich — Herr Holle zuständig: „Wir vereisen dort seit vier Jahren den feuerspeienden Drachen.“

Daheim in Osnabrück brach an Weihnachten schon oft tiefster Winter aus. „Prima, Papa macht Schnee“, jubelten die Kinder, inzwischen zwölf, 15 und 18 Jahre alt. Früher kippte der Vater zum Fest regelmäßig strahlendes Weiß in die Wohnung. Schnell wurden noch Fußspuren des Weihnachtsmanns gelegt, dann nahte die Bescherung. Das ging so lange gut, bis der Älteste petzte: „Ist ja eh alles unecht bei Papa!“

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