Vor 30 Jahren Mit Genscher auf dem Prager Botschafts-Balkon

Wuppertal/Prag. · Der Wuppertaler Thomas Strieder wird als junger Diplomat Zeuge des historischen Ereignisses. Am Montag jährt sich die berühmte Balkonrede von Genscher in der Prager Botschaft zum 30. Mal.

 Der damalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher (unter dem Fensterkreuz rechts) steht am 30. September 1989 mit anderen Politikern auf dem Balkon der bundesdeutschen Botschaft. Dort verkündet der FDP-Politiker den DDR-Bürgern im Garten, dass ihre Ausreise möglich geworden war.

Der damalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher (unter dem Fensterkreuz rechts) steht am 30. September 1989 mit anderen Politikern auf dem Balkon der bundesdeutschen Botschaft. Dort verkündet der FDP-Politiker den DDR-Bürgern im Garten, dass ihre Ausreise möglich geworden war.

Foto: dpa/Reinhard Kemmether

Thomas Strieder hat in seiner Diplomatenkarriere schon einige spannende Auslandsstationen erlebt. Sein erster Posten beim Auswärtigen Amt führt den Wuppertaler 1987 in die Ständige Vertretung der Bundesrepublik Deutschland nach Ost-Berlin, wo er Referent des Leiters Hans Otto Bräutigam wird. Gleich aufs glatte innerdeutsche Parkett – schon mal nicht schlecht für einen Berufsneuling.

Aber es sollte noch abenteuerlicher werden. Im September 1989 erhält er aus dem Bonner Personalreferat einen Anruf, in dem dem 31-jährigen Legationssekretär (Beamter im höheren auswärtigen Dienst) kurzfristig sein nächster Einsatzort mitgeteilt wird: die deutsche Botschaft in Prag. Seine Aufgabe: Die Unterstützung der Botschaftsmitarbeiter bei der Betreuung hunderter DDR-Flüchtlinge. Was sich anfangs als nicht uninteressanter Bürokratenjob anhört, wird „zum prägendsten Erlebnis meiner Dienstzeit“, wie Strieder (61) heute sagt. Im Prager Herbst vor 30 Jahren wird ein Stück europäische Geschichte geschrieben – was Strieder und seinen Kollegen zunächst nicht bewusst ist.

Aus den anfänglich knapp 400 DDR-Bürgern, die im Palais Lobkowicz am 30. September 1989 Zuflucht suchen, um über die Botschaft ihre Ausreise in den Westen zu erzwingen, werden stündlich mehr. „Wir schaffen es nicht mehr, die Neuankömmlinge zu zählen“, notiert Strieder in seinem Tagebuch.

Die Menschen drängen in das historische Gebäude oder klettern über den hinteren Botschaftszaun, was nicht ungefährlich ist. Es kommt zu Verletzungen. In der Botschaft liegen überall Leute, darunter viele Kinder, es stinkt nach Fäkalien. Der Kuppelsaal des Hauses ist mit dreistöckigen Betten komplett belegt. Angesichts der 4000 Menschen, die auch im Garten in Zelten campieren, herrscht Ausnahmezustand. „Ich habe in der Residenz des Botschafters ein Eckchen für mich haben können, aber alles war sehr beengt. Katastrophal waren auch die sanitären Bedingungen, schließlich ist eine deutsche Botschaft nicht auf mehrere tausend Menschen eingerichtet“, sagt Strieder.

Genscher spricht in das von Strieder gereichte Megaphon

Als seinen bewegendsten Moment in all dem Chaos nennt er das plötzliche Eintreffen des damaligen deutschen Außenministers Hans-Dietrich Genscher am späten Nachmittag. „Er musste sich zunächst draußen auf dem Vorplatz mühsam den Weg durch die dichte Menschenmenge bahnen. Ich stand direkt am gewaltigen Holzportal der Botschaft, durch das er kaum durchkam. Er wurde aber schnell von den Menschen erkannt und jubelnd begrüßt. Genscher wirkte sehr erstaunt, derartige Verhältnisse hatte er nicht erwartet.“

Während der Minister Gespräche mit Botschafter Hermann Huber in dessen Residenz führt, organisiert das Botschaftspersonal seinen Auftritt auf dem Balkon. Strieder soll ein Mikrofon und Lautsprecher besorgen, was ihm in der Kürze der Zeit nicht gelingt. Es reicht für ein Megaphon, ausgeliehen aus einer benachbarten Botschaft. Zudem installiert der Hausmeister einen mickrigen Scheinwerfer. Unter derart improvisierten Verhältnissen spricht Genscher in das von Strieder gereichte Megaphon den legendären (Halb-)Satz, dessen Ende im Jubel der Menschenmassen untergeht: „Ich bin heute zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen...“

Strieder, der hinter Genscher auf dem Balkon steht, registriert einen ergriffenen Außenminister, der nach seiner kurzen Verkündigung mit versteinerter Miene zurück in die Residenz geht.

Mit dem danach folgenden Abzug der Massen ist die Mission des jungen Diplomaten in Prag noch längst nicht beendet. In den frühen Morgenstunden des 1. Oktober führt er selbst eine Gruppe von etwa 450 DDR-Flüchtlingen zu einem Sammelplatz unweit der Botschaft, wo bereits Busse aus der DDR mit Fahrern der Staatssicherheit (Stasi) warten. Mancher Flüchtling wittert eine Falle. Doch Strieder sorgt durch Vorhalten seines Diplomatenpasses für Vertrauen, lotst die Busse zum Prager Bahnhof.

Strieder wirkte beruhigend auf die DDR-Flüchtlinge im Zug ein

Dort besteigt er mit den Menschen einen Zug der DDR-Reichsbahn mit dem Ziel Hof in Franken. Die Strecke führt über DDR-Gebiet. „Das war sehr aufregend, und alle waren natürlich höchst angespannt. Ich war der einzige offizielle Begleiter der Gruppe in meiner Eigenschaft als Diplomat der westdeutschen Botschaft. Alle Ausreisenden hatten Angst, dass man sie aus dem Zug holen würde. Als der einmal auf freier Strecke zum Stehen kam und Stasi-Angehörige zustiegen und durch die Abteile gingen, brach regelrecht Panik aus“, sagt Strieder. Er sei dann durch jedes Zugabteil gegangen und habe beruhigend auf die Menschen eingewirkt.

Die Stasi kassiert derweil von jedem Flüchtling im Zug die Ausweispapiere. „Dazu gab es den Spruch: ‚Und hiermit werden Sie aus der Staatsbürgerschaft entlassen‘ oder so ähnlich“, erinnert sich Thomas Strieder und muss noch heute über den anschließenden Jubel der Leute schmunzeln.

Dass die DDR ihr Ausreise-Versprechen einhält, wird zuvor schon deutlich, als der Zug mit Höchstgeschwindigkeit durch die Vorstadtbezirke von Dresden fährt, dort, wo sonst eher langsames Fahren angesagt ist. Strieder beobachtet, wie aus vielen Fenstern der Hochhäuser die Bewohner mit weißen Bettlaken winken.

Im Bahnhof von Hof geht ein Himmelfahrtskommando glücklich zu Ende. Zum Dank schenken ihm die Geflüchteten eine großformatige DDR-Zugstreckenkarte, auf der jeder unterschreibt. „Die hängt eingerahmt in meinem Haus bei Berlin.“

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort