Zwischenbericht einer Expertenkommission Missbrauch: Warum Mütter ihre Kinder oft im Stich lassen

„Es ist überall passiert, und es gab kein Entrinnen“ - Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs zieht Zwischenbilanz.

Sexueller Missbrauch von Kindern kommt am häufigsten in der Familie und im Bekanntenkreis vor. (Symbolbild)

Sexueller Missbrauch von Kindern kommt am häufigsten in der Familie und im Bekanntenkreis vor. (Symbolbild)

Foto: dpa

Berlin. Sexueller Missbrauch von Kindern kommt am häufigsten in der Familie und im Bekanntenkreis vor. Das zeigt ein Zwischenbericht der unabhängigen Expertenkommission zur Aufarbeitung von Missbrauchsfällen, der am Mittwoch in Berlin veröffentlicht wurde.

Leonie, mittlerweile Anfang 30, musste „manchmal Wache stehen“, während ihr Opa sich an ihrer Zwillingsschwester verging. „Wenn meine Mutter kam, warnte ich ihn“. Leonie war sechs Jahre alt, als der Großvater beide Mädchen sexuell missbrauchte. Erst in der vierten Klasse beim Sexualkundeunterricht habe sie begriffen, dass die Handlung ihres Opas nicht richtig sei und es der Mutter gesagt, erzählt Leonie heute.

Auch für Tim waren sexuelle Übergriffe schlimmer Alltag. „Es ist überall passiert, Wohnzimmer, Dachboden, Badezimmer, Sauna, Auto…es gab kein Entrinnen“. Tim war Anfang der 2000er Jahre zehn und sein Bruder nicht viel älter, als der neue Lebensgefährte der Mutter einzog und der Leidensweg der beiden Kinder begann. Erst als er volljährig war, zeigte Tim den Mann an. Die Mutter jedoch warf ihrem Jungen vor, „eifersüchtig“ gewesen zu sein. Bis heute fühle er sich schuldig, sagt Tim.

Solche Schilderungen stehen exemplarisch dafür, was die Kommission seit dem Start im Mai 2016 beschäftigt. „Es sind Lebensgeschichten, die aufwühlen“, meinte ihre Vorsitzende Sabine Andresen. Ziel des Expertengremiums ist es, sämtliche Formen von sexuellem Kindesmissbrauch in der Bundesrepublik und der früheren DDR zu ergründen und Strukturen aufzudecken, die solche Verbrechen ermöglichen.

Mittlerweile haben sich rund 1000 Betroffene und weitere Zeitzeugen für eine vertrauliche Anhörung gemeldet. 200 von ihnen konnten bereits ihre Missbrauchserfahrungen schildern. Bei 70 Prozent der Betroffenen fand der Missbrauch in der Familie sowie ihrem unmittelbaren Umfeld statt. Es folgen Institutionen wie Schulen und Heime, fremde Täter und rituelle Gewalt.

Sexuelle Vergehen gebe es in allen Schichten, Familientypen und Regionen, erläuterte Andresen. Dabei verstärkten sich die Leiden noch im Erwachsenenalter, weil Betroffene keine Unterstützung bekämen, klagte die Expertin. Besonders belastend sei, dass den Opfern oft nicht geglaubt werde, so Andresen. Laut Zwischenbericht waren Mütter häufig Mitwissende, die ihre Kinder wegen der Abhängigkeit vom Partner nicht vor sexuellen Übergriffen schützten. Viele Betroffene machten auch die bittere Erfahrungen, dass andere von dem Thema nichts hören, sehen, oder wissen wollten, meinte Matthias Katsch, Mitglied im Betroffenenrat der Kommission.

Als ehemaliger Schüler des Berliner Canisius-Kollegs hatte er seinen Missbrauch schon vor sieben Jahren öffentlich gemacht. Für viele sei das immer noch ein „exotisches Schmuddelthema“, klagte Katsch.

Häufig sorgen die psychologischen Spätfolgen dafür, dass Missbrauchsopfer in ärmlichen Verhältnissen leben. Etwa jeder Fünfte, der sich bislang gegenüber der Kommission offenbaren konnte, ist damit konfrontiert. Die ehemalige Missbrauchsbeauftragte und Ex-Familienministerin, Christine Bergmann (SPD), machte dafür auch politische Defizite verantwortlich. Nach dem geltenden Opferentschädigungsgesetz ist ein Nachweis erforderlich, dass die aktuellen gesundheitlichen Störungen aus dem vormaligen Missbrauch resultieren. Meistens sei das aber nicht möglich, erläuterte Bergmann. Dabei gebe es durchaus Kriterien für bestimmte Spätfolgen.

Auch die Kommission selbst ist finanziell nicht auf Rosen gebettet. Die staatlichen Mittel von rund 1,6 Millionen Euro reichen nur noch aus, um bis zum Ende ihrer Laufzeit im März 2019 alle Betroffenen anzuhören, die sich bislang gemeldet haben. Neue Interessenten können nach jetzigem Stand nicht mehr berücksichtigt werden. „Es fehlt am politischen Willen, sich wirklich um dieses Thema zu kümmern“, meinte Bergmann.

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