Inklusion in NRW Katharina geht gern zur Regelschule

Für Familie Hoos kam nie eine Förderschule infrage — auch wenn sie immer wieder für den regulären Schulbesuch kämpfen musste.

Inklusion in NRW: Katharina geht gern zur Regelschule
Foto: Monika Werner-Staude

Witten. Familie Hoos wohnt in einer verträumten Villa mit weitem Blick in winterlich karge Landschaft und doch nahe der Wittener City gelegen. „Unsere Oase“, schwärmen Mutter Erika und Tochter Katharina. Die 16-Jährige ist das Nesthäkchen der Familie, „Ich bin ein Wunderkind“, strahlt Katharina, die seit ihrer Geburt schwerst körperlich-motorisch und auch etwas geistig beeinträchtigt ist. Und dennoch auf ihren zwei Beinen den Weg mitten ins Leben gegangen ist, Regelschule und Hip-Hop-Kurs, Klavier- und Flötenspiel inklusive. „Jeder Mensch hat ein Recht auf gesellschaftliche Teilhabe“, sagt ihre 49-jährige Mutter Erika bestimmt. Eine Förderschule für ihre Tochter kam für Familie Hoos denn auch nie infrage: „Ich finde, die Gesellschaft muss sich ändern, nicht wir.“

Auffassungen, für die die Familie immer wieder kämpfen musste. Es begann mit dem Kindergarten, den schon die 20 Monate ältere Schwester Sarina besuchte. Erst nachdem mit einem Anwalt gedroht worden war, wurde die für Katharinas Betreuung notwendige Erzieherin eingestellt. 2007 begann die Schullaufbahn. Anträge beim Gesundheits- und beim Schulamt sowie eine Klassenlehrerin, die sich um die Betreuung kümmern wollte, ermöglichten, dass Katharina zur selben Grundschule gehen konnte wie Freundinnen und Schwester.

Das ging so lange gut, bis die Pädagogin nach zwei Jahren die Schule verließ. Erst als Katharina in eine Klasse tiefer wechselte, wo sich wieder eine Lehrkraft fand, die die zusätzliche Betreuung übernehmen wollte, besserte sich die Situation. Um die notwendige therapeutische Förderung kümmerten sich die Eltern am Nachmittag. Erika Hoos: „Das alles kostet Zeit und Geld. Ich verstehe gut, dass das nicht alle Eltern leisten können.“ Und es erforderte von Anfang an einen straff durchgetakteten Tagesablauf.

Die Erlösung kam mit dem Wechsel in die weiterführende Schule, die Matthias-Claudius-Gesamtschule (MCS) in Bochum — auch wenn dafür 40 Minuten Anfahrt in Kauf genommen werden müssen. „Ich wurde dort so aufgenommen, wie ich bin “, freut sich Katharina, die einfach gerne zur Schule geht. Erika Hoos, die dort stellvertretende Elternpflegschaftsvorsitzende ist: „Das war die völlige Entlastung für die Eltern. Die denken mit.“

Katharina fühlt sich an der 1990 gegründeten privaten evangelischen Gesamtschule wohl, weil sie hier mit allen lernen kann, „in einer Gruppe und nicht getrennt und doch in meinem Tempo“. Ihr Lieblingsfach ist Mathematik. Der Apfel fällt eben nicht weit vom Stamm: Mutter Erika Hoos ist Lehrerin für Mathematik und Religion.

Also überhaupt keine Probleme? „Natürlich ist die MCS kein Paradies“, widerspricht Elisabeth Przybylski. Die 56-Jährige ist Inklusionsbeauftragte der Elternschaft der MCS und zu Besuch bei Familie Hoos. Ihr an den Rollstuhl gebundener Sohn Tobias macht dieses Jahr Abitur.

Auch für Familie Przybylski kam nie eine Förderschule in Frage, trotz einstündiger Anfahrt aus Herne. Probleme wie Ausgrenzung oder pubertäre Zickereien gibt es auch unter den Schülern der MCS. Die aber liegen an den Menschen und nicht an der (Nicht-)Behinderung.

Zum Beispiel, wenn private Fotos ins Netz gelangen. Katharina, mittlerweile in der neunten Klasse, kann sich nur an einen einzigen Fall erinnern, als sie beim Schwimmen gehänselt wurde — aber das wurde damals schnell im Gespräch mit den Lehrern geklärt. Und weil man an der Gesamtschule gewohnt sei, Menschen zu integrieren, so Erika Hoos, habe man auch kein Problem gehabt, Flüchtlinge in der Klasse aufzunehmen: „Hier ist es eben nichts Besonderes, anders zu ein.“

Dass Inklusion an Regelschulen auch schwieriger verlaufen kann, erfährt Lehrerin Hoos an ihrem Arbeitsplatz in einer Realschule. Zum Beispiel, wenn es um den verlässlichen Einsatz der Sonderpädagogen geht, die die Förderschulen schicken müssen. Auch die Einführung der Inklusion vor zweieinhalb Jahren verlief schwierig. „Wir wurden nicht informiert, kümmerten uns selbst um unsere Fortbildung.“

Gibt es offene Wünsche? Katharina hätte gerne längere Pausen, ist aber ansonsten „einfach glücklich“. Elisabeth Przybylski fände kleinere und dadurch leisere Klassen besser. Und Erika Hoos hätte gerne mehr Informationen für Eltern behinderter Kinder, „damit ich mir nicht alles selbst erarbeiten muss. Wir wussten oft nicht, welche Ansprüche wir wo haben.“ Schön wäre auch mehr Freizeit: Tobias (18) hat seine Mitschüler fast nur am Wochenende zu Besuch. Und Katharina „trifft“ ihre Freundinnen oft nur über Facetime — wenn sie gerade zu Hause in der Hoos’schen Oase ist.

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