ARD-Unterhaltungschef: ESC schafft Aufmerksamkeit

Berlin (dpa) - Der Eurovision Song Contest (ESC) in Baku ist kein Grand Prix wie jeder andere: Kritik an der autoritären Führung Aserbaidschans wegen Menschenrechtsverletzungen beherrscht seit Wochen die Schlagzeilen.

Der ARD-Unterhaltungskoordinator Thomas Schreiber vom Norddeutschen Rundfunk (NDR) sieht darin auch eine Stärke des Wettbewerbs; durch das breite Interesse am ESC würden auch Missstände öffentlich.

Dennoch sollte sich der Veranstalter, die European Broadcasting Union, überlegen, welche Länder teilnehmen dürfen, sagte der 52-Jährige in einem dpa-Interview in Berlin - wenige Tage bevor er mit der deutschen ESC-Delegation in die aserbaidschanische Hauptstadt Baku flog.

Waren Sie überrascht von der ausführlichen Berichterstattung über die politische Situation in Aserbaidschan vor dem Wettbewerb?

Schreiber: „Ja und nein. Aserbaidschan ist ein Land mit einer unheimlich reichen und komplizierten Geschichte, über das man in Deutschland relativ wenig wusste. Deswegen habe ich erwartet, dass der ESC das tut, was er immer tut: eine Bühne zu sein, nicht nur im wörtlichen, sondern auch im übertragenen Sinne - eine Bühne, die Interesse an dem Land schafft. Das haben Oppositionelle und Menschenrechtsorganisationen professionell genutzt, um auf die Situation der Menschenrechte in Aserbaidschan hinzuweisen - und dies hat in einigen Ländern Europas große Aufmerksamkeit gefunden.“

Es gab Kritik am Veranstalter, der Europäischen Rundfunkunion (European Broadcasting Union/EBU), wenig demokratische Länder zuzulassen. Was kann die ARD in dieser Situation tun?

Schreiber: „Die ARD kann erst einmal über Aserbaidschan berichten - vor, während und nach dem Song Contest. Gleichzeitig ist die ARD Mitglied in der EBU, und dort ist das Thema bereits auf verschiedenen Ebenen besprochen worden. Ich habe ja versucht, am Beispiel Weißrusslands zu verdeutlichen, dass man sich die Frage stellen muss, welche Länder am ESC teilnehmen dürfen - und das wird durchaus kontrovers diskutiert.“

Im Moment ist das Reglement einfach: Alle Mitgliedsstaaten der EBU dürfen am ESC teilnehmen...

Schreiber: „...aber nicht alle Mitgliedsstaaten sind demokratisch. Weißrussland beispielsweise ist ein Land, in dem die Todesstrafe vollstreckt wird; es ist ein Land, das nicht Mitglied im Europarat ist und sich nicht verpflichtet hat, bestimmte Grundlagen der Menschenrechte einzuhalten. Also ist die Frage, wer am ESC teilnimmt, eine, die wir diskutieren müssen. Aber auch das ist ein Mehrheitsbeschluss - das geht vielleicht auch nicht von einem auf das andere Jahr.“

Ein Boykott des ESC in Baku war nie ernsthaft erwogen worden, auch viele Oppositionelle in Aserbaidschan wollen das nicht. Wäre das im Falle Weißrusslands anders?

Schreiber: „Das weiß ich jetzt noch nicht. Aber man könnte ja auch zu der Auffassung kommen, dass es sinnvoll ist, wenn der ESC in einem Land stattfindet, das nicht unseren Vorstellungen von Demokratie entspricht, weil der ESC dann für viele Sichtweisen ein Forum bietet - eben auch für die Opposition, die sonst nicht so große Aufmerksamkeit findet. Ein aserbaidschanischer Aktivist hat bei einer ARD-Diskussion gerade gesagt, würde Weißrussland gewinnen, würden wir unsere Kollegen dort beraten, wie sie den Song Contest für ihre Zwecke nutzen könnten. Das macht deutlich, dass ein großes internationales Ereignis nicht nur eine Show ist, nicht nur für die Veranstalter eine Gelegenheit ist, sich und ihr Land darzustellen, sondern auch eine Gelegenheit ist für andere Leute, Aufmerksamkeit für Themen aus diesem Land zu wecken.“

Was wird denn nach dem ESC passieren: Wird die Aufmerksamkeit der westlichen Medien eine nachhaltige Wirkung haben, wird sich in Aserbaidschan etwas verändern?

Schreiber: „Ich glaube erst einmal, der Song Contest wird eine eindrucksvolle Fernsehshow, die in Europa 100 bis 120 Millionen Zuschauer erreicht. Gleichzeitig wird danach aber auch in Redaktionen eine gewisse Sensibilität für Nachrichten aus Aserbaidschan vorhanden sein. Das wäre auch meine Hoffnung, dass man nicht nur während des ESC, sondern auch danach dort noch einmal hinblickt.“

Gab es Probleme mit der Akkreditierung für kritische Journalisten aus Deutschland?

Schreiber: „Nein, es gab keinerlei Probleme. Ich weiß auch, dass deutsche Journalisten eine Akkreditierung erhalten haben, die es in der Vergangenheit nicht immer so leicht hatten, in Aserbaidschan einzureisen.“

Was wünschen Sie sich für Roman Lob?

Schreiber: „Wenn man am ESC teilnimmt, muss man das mit der Haltung tun, dass man gewinnen will. Aber über den Song müssen die Zuschauer und die Jurys entscheiden. Ich bin mit unserem Kandidaten außerordentlich glücklich und glaube, dass er da einen sehr guten Auftritt abliefern kann. Für uns gilt das, was wir schon in Düsseldorf gesagt haben: Wir freuen uns über einen Platz unter den Top Ten. Das ist das Ziel.“

Interview: Patrick T. Neumann, dpa

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